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Wie zwinglianisch ist Zwingli?

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22.02.2017
Die Reformation bedeute ein gewaltiger gesellschaftlicher Aufbruch. Peter Opitz, Historiker und Zwingli-Biograf, über den helvetischen Sonderfall der Reformation und warum die Protestanten Pioniere waren.

Herr Opitz, war Zwingli nicht zwinglianisch?

Zwingli hatte viele Gegner und wenig Zeit, sein Leben zu geniessen. Er hat aber Kunst und Theater geliebt. Und besonders die Musik. Er hat viele Instrumente gespielt. Gegner haben ihm deshalb vorgeworfen, kein ernsthafter Mensch zu sein. Er war ernsthaft, aber er hatte auch viel Humor.

Was ist die grösste Leistung der Reformation?

Im Blick auf Theologie und Kirche ist es die Rückbesinnung auf die Kerninhalte des christlichen Glaubens. Die Reformatoren wollten keine neue Sekte gründen, sondern sich auf das Wesentliche der Botschaft besinnen.

Und in der Geschichte?

Die Reformation war eine Bewegung, welche die Gesellschaft grundlegend veränderte und einen wichtigen Schritt in die Neuzeit bildete.

1517 begann in Deutschland die Reformation mit Luthers Thesenanschlag. Was unterscheidet die Deutsche und die Schweizer Reformation?

In Deutschland löste ein Mönch die Reformation aus. Er wollte die Kirche reformieren. Dieser Mönch Luther thematisierte das persönliche Gottesverhältnis. Seine Frage lautete, wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Luthers Bewegung konnte in den verschiedenen Fürstentümern Fuss fassen. Meist wachte ein Landesfürst über die Umsetzung der Reformation.

Und in der Schweiz?

In der Schweiz haben wir eine Gemeinde- und Städtereformation. Zwingli war der Vordenker, aber Stadträte, Zunftmeister und Bürgermeister beschlossen die Reformation und setzten sie um. Die Schweizer Reformation hatte einen anderen Charakter, im Vordergrund stand das Verhältnis zwischen Gott und der Gemeinschaft. Für Zwingli war klar, dass Religion mit Politik zu tun hat. Für ihn hatte das Reich Gottes soziale, politische und rechtliche Auswirkungen. Der Reformator wollte die Gemeinde entsprechend dem göttlichen Wort umgestalten. Luther unterschied da zwischen der geistlichen und weltlichen Obrigkeit.

Für Zwingli waren Staat und Religion nicht getrennt. Kritiker werfen ihm heute vor, ein reformierter Taliban zu sein.

Das ist Unfug. Er forderte genau das Gegenteil. Er wollte Glaubensfreiheit und das Recht zur Selbstbestimmung. Das Volk selber sollte das Zusammenleben regeln und nicht mehr eine geistliche Elite, welche die Gesellschaft mit ihren Glaubensdogmen knechtete.

Luther und Zwingli waren zwei völlig verschiedene Charaktere. Zeigte sich dies auch in der Reformation?

Zwingli war ein Humanist, der über viel Humor und Selbstironie verfügte. Durch seine humanistische Bildung konnte er auch mit einer gewissen Distanz über religiöse Fragen reden. Die Bibel war ihm Autorität, aber er konnte über deren Auslegung diskutieren. Zwingli liess sich gerne belehren. Unter seine Texte schrieb er jeweils: «Wenn mich jemand belehren könnte, wo ich irre, sollte er dies jetzt tun.»

Und Martin Luther?

Luthers Glaube war enger und direkter mit seiner eigenen Person verbunden, bei ihm ging es immer gleich um das ewige Heil oder die Verdammnis. Er war weniger Lehrer als Prophet. Seine Schriften rüttelten auf und entfachten ein Feuer. Luther verfasste wunderschöne und erbauliche Texte, aber auch furchtbare Schriften, in denen er erbarmungslos über seine Gegner und Andersgläubige herzog.

Sie meinen die Bauern, Juden oder auch den Reformator Zwingli?

Ja, unter anderem.

Welcher Aspekt des Reformators Zwingli hat Sie beeindruckt?

Etwas, das selten erwähnt wird: Zwingli war ein tief religiöser Mensch. Er verstand sich als Werkzeug Gottes. Er war bereit, dafür sein Leben zu geben. Bei ihm ging es nicht um sein eigenes Seelenheil, sondern um die Eidgenossenschaft. Zwingli verband den Glauben mit der Frage der Gerechtigkeit. Er wollte eine gerechte Gesellschaft, in der die Reichen nicht die Armen ausbeuten, sondern in der man fair zusammenlebt. Das ist ein wesentlicher Aspekt in Zwinglis Denken.

In der Schweiz fand die Reformation nicht nur in den Zentren Bern, Zürich und Basel statt, sondern auch auf dem Land. Wie ging sie vonstatten?

Für die Landbevölkerung bedeutete die Reformation einen Gewinn an politischer und wirtschaftlicher Selbstverwaltung. Obwohl die Schweiz sehr klein ist, sah die Reformation an jedem Ort anders aus. Das gilt auch für die Landregionen. Jede Region hatte ihre Eigenarten und ihre eigene Reformationsgeschichte. Wenn bis heute eine gesamtschweizerische Jubiläumsfeier der Reformation nicht möglich ist, hat dies Tradition, ist aber auch nicht schlimm, sondern eben schweizerisch.

Zur Schweizer Eigenart gehörte, dass die Reformation nicht zu Bauernkriegen führte.

Ja. In der Schweiz waren die Hierarchien flacher und die Verbindungen zwischen der Obrigkeit und Landbevölkerung waren eng. Man kannte sich und war miteinander verwandt. Als die Bauern ihre sozialen Forderungen stellten, setzte man auf Verhandlungen und suchte den Ausgleich. In Deutschland hatten die Fürsten wenig Gehör für die Anliegen ihrer Bauernschaft. Sie schlugen die Bauernaufstände mithilfe ihrer Söldner brutal nieder.

Warum gab es in der Schweiz nicht lange Religionskriege?

Häufig mussten sich Katholiken und Reformierte, die eng miteinander zusammenlebten, arrangieren. An manchen Orten benutzten die Protestanten und Katholiken die gleiche Kirche. In Graubünden entschied jedes Dorf, ob es nun den neuen Glauben annehmen wollte. Wollten die Dörfer miteinander Handel treiben, mussten die Leute weiterhin miteinander auskommen.

Also gab es schon da den helvetischen Sonderfall?

Die Eidgenossenschaft war eine Pionierin in Sachen konfessionellem Zusammenleben. So wurde der Schweiz das Schicksal des Dreissigjährigen Krieges erspart.

Wie hat die Reformation die Schweiz geprägt?

Die gesellschaftlichen Auswirkungen waren gross, nicht nur im Religiösen, sondern auch in der Wirtschaft, in den Wissenschaften und vor allem in der Sozialpolitik: Da die Reformation eng mit dem Handwerk, den Zünften und Händlern verbunden war, unterstützte dies den wirtschaftlichen Aufschwung. So schafften die Reformatoren die Heiligenfeste ab, gestatteten das massvolle Zinsnehmen und gaben der Arbeit eine neue Bedeutung. Zwingli sagte, der arbeitende Mensch sei am ehesten Gottes Ebenbild. Denn auch Gott habe gearbeitet. Und in der Sozialpolitik waren Zwingli und Zürich Pioniere: Sie verboten das Betteln und zogen gleichzeitig ein flächendeckendes Armenwesen auf. Dazu setzten sie Armenpfleger ein und gründeten eine Kasse.

Die Reformation ist heute in der Gesellschaft aufgegangen. Vieles, das früher die Kirche machte, hat der Staat übernommen. Die Botschaft der Nächstenliebe und Solidarität ist heute Allgemeingut. Wie kann Kirche heute wieder verstärkt «Salz in der Welt» sein?

Seit Ende des 18. Jahrhunderts schreiben die reformierten Kirchen ihren Mitgliedern immer weniger vor, welche Dogmen sie glauben müssen. Man hat die Freiheit zu glauben oder nicht zu glauben. Damit bekommt aber das Bekennen der Kirche und der einzelnen Christen wieder eine stärkere Bedeutung. Die Reformierten sollen zeigen, für welche Botschaft und Werte sie einstehen.

Das klingt theoretisch. Wie könnte das konkret aussehen?

Die reformierte Kirche tritt in der Gesellschaft beispielsweise für die Schwachen und die Menschenrechte ein. Das macht sie gut. Sie müsste jedoch den Mut haben, deutlich zu sagen, warum sie dies tut.

Sie müsste sich mehr mit der Bibel einmischen, wie es die Reformatoren im 16. Jahrhundert taten?

Ja. Allerdings: Die Rede von «der Kirche», die etwas tun sollte, ist auch problematisch. Reformierte wissen: «Die Kirche», das sind nicht «die da oben», das sind wir selber.

Zum Schluss: Was würde Zwingli sagen, wenn er heute in seine Stadt käme?

Zwingli würde die Verantwortlichen in Politik und Behörden und alle Bewohnerinnen und Bewohner Zürichs auffordern, sich bei jeder Entscheidung, die zu treffen ist, die Frage zu stellen: Dient diese Entscheidung mehr dem Gemeinwohl als meinem eigenen Nutzen? Nur wenn das Ja überwiegt, hat die Stadt Zukunft.

Tilmann Zuber, Kirchenbote, 22.2.2017

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