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Uferlos digital

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27.06.2017
Wir haben überall Netz, sind ständig online. Was für viele als Privileg und neue Spielwiese in fremde Welten begann, ist längst zu einer obsessiven Konstante im Leben geworden. Worauf steuern wir zu?

Meine Handynutzung ist intensiv, teils sogar exzessiv. Ich entsperre es teilweise über 150 Mal am Tag, benutze es drei Stunden täglich. Ich habe das messen lassen. Mit der App «Moment», die auswertet, wie viele Stunden am Tag man am Handy verbringt, und vor allem: womit. Natürlich nehmen die sozialen Medien, die Kommunikations-Apps, Facebook, WhatsApp und immerhin noch die Telefonie einen sehr grossen Teil davon ein.

Ja, ich bin Journalistin und viel am Telefon, ja, mein Handy ist auch mein Navigationsgerät beim Autofahren und meine mobile Bordkarte, es ist auch mein Radio, mein Adressbuch und mein E-Mail-Posteingang, mein Bezahlgerät im Laden und meine Kamera. Und genau das ist eines der Probleme: Alles, was ich benötige für ein gutes Leben und gleichzeitig alles, was so überflüssig scheint, sind an ein und demselben Ort abgespeichert. Zehn mal drei Zentimeter in der Grösse, ein Gerät, das alles kann und mir doch manchmal nichts mehr gibt.

Bin ich damit ein digitaler Sonderfall? Keineswegs. Im Durchschnitt aktivierten die Besitzer 53 Mal am Tag ihr Handy, fanden Informatiker und Psychologen der Universität Bonn heraus, die 2015 60 000 Datensätze untersuchten. Die Nutzer unterbrachen alle 18 Minuten ihre Tätigkeit, mit der sie gerade beschäftigt waren. Der Durchschnittsnutzer verbringt gemäss Studie zweieinhalb Stunden täglich mit seinem Handy, nur sieben Minuten davon telefoniert er. Und das war vor noch zwei Jahren. Der Autor der Studie, Alexander Markowetz, Juniorprofessor für Informatik an der Universität Bonn, hat die Ergebnisse in ein Buch gegossen mit dem Titel «Digitaler Burnout». Das Buch gab viel zu reden. Er sagt: «Smartphone-Apps funktionieren wie Glücksspielautomaten. Wir betätigen sie immer wieder, um uns einen kleinen Kick zu holen.»

Abwesend

Das Verhalten sei kein exklusiver Tick der Jugend, sondern ziehe sich durch alle Altersgruppen und sozialen Schichten. Dramatisch sind dabei besonders die ständigen Unterbrechungen. Sie erlaubten es nie, sich einer Tätigkeit vollauf zu widmen, und verhinderten damit jede Erfahrung von Flow. Die Folgen seien Unproduktivität und ein mangelndes Glücksempfinden. Amerikanische Forscher fanden heraus, dass bereits die Anwesenheit eines Smartphones auf dem Tisch genügt, um die Gesprächsqualität sinken zu lassen. Paare beklagen sich über die geistige und emotionale Abwesenheit des Partners, fühlen sich in ihrem Kontaktbedürfnis und dem Wunsch nach Austausch gekränkt.

Strahlung und Ablenkung

Dabei sind es gerade einmal zehn Jahre, die zwischen dem ersten Auftritt von Steve Jobs auf einer Bühne in San Francisco und diesem Jahr stehen, eine so kurze Zeitspanne, und doch hat sich in den letzten Jahren digital so viel verändert, dass wir damit gar nicht mehr wirklich nachzukommen scheinen. Kein Mensch weiss, was ständige Strahlung, ständige Ablenkung, ständige Social-Media-Nutzung mit uns machen. Die einen stellen fest, dass wir beim ständigen Betrachten von lustigen und schönen Facebook-Bildchen selbst depressiver werden, andere Forscher können aber keine Folgen der Handy- oder WLAN-Strahlungen messen, wieder andere behandeln bereits Kinder wegen diffuser Stresssymptome und schicken Manager in Digital-Detox-Ferien, damit sie mal runterkommen.

Fehlende Diskussion

Die Wirtschaft steht derweil zwischen Glücksräuschen und Panikattacken, in einem Wirbel um immer effizientere Systeme, Industrie 4.0 und automatisierte Roboter-Arbeit, E-Mails checken 24 Stunden am Tag, einschlafen mit dem Handy in der Hand, und gleichzeitig die französische Regierung, die es fortan verbietet, Angestellten nach 18 Uhr E-Mails zu senden, sie werden automatisch vom Server geblockt. Während die einen in Seminaren aussteigen wollen, warten die anderen sehnsüchtig darauf, sich Kontaktlinsen einpflanzen zu lassen, die ihre Umgebung filmen.

Aber wo bleibt die gesellschaftliche Debatte darüber? Wo bleiben die Fragen danach, was wir privat lassen wollen, wo wir gestört sein wollen, wo wir überwachen wollen und wo ganz wir selbst sein, wo wir zweite Realitäten wollen und wo ganz in Ruhe im Hier und Jetzt? Die Smartphone-Nutzung sei nicht das Ende der Entwicklung, sondern erst der Anfang, sagt Professor Markowetz. «Wir brauchen dringend eine gesellschaftliche Debatte und einen interdisziplinären Austausch in der Wissenschaft, um zu verstehen, was die Digitalisierung mit unseren Psychen macht.»

Einen möglichen Ausweg aus diesem Teufelskreis zeigen erste Vorreiter aus den USA. Dort seien es genau die digitalen Eliten, die nun anfingen, sich digitale Diäten aufzuerlegen. «Die permanente Smartphone-Nutzung ist ein unterbewusster Reflex», sagt Markowetz. Die Automatismen könne man durch konkrete Techniken loswerden. Etwa, indem man das Schlafzimmer zur Handy-freien Zone erkläre oder die Regel aufstelle, das Smartphone nur auf einem unbequemen Küchenschemel zu nutzen. Rund um die digitale Entgiftung – digital detox genannt – hat sich in den USA eine florierende Industrie entwickelt. Und diese Entwicklung schwappt nun auch nach Europa und in die Schweiz über.

Handy bitte aus

Es gibt Seminare, Bücher zum Thema, Hotels und Yoga-Studios, die erste Schilder anbringen, die sagen: Handy bitte draussen lassen. Menschen, die ihr Handy immer öfter zu Hause lassen oder ihre E-Mails nur noch einmal täglich checken. Die sagen: Ruf doch mal wieder an. Das ist der Hoffnungsschimmer einer jeden neuen Entwicklung: Dass sie eine Gegenentwicklung auslöst und sich beides gegenseitig befruchtet. Denn vieles an der Digitalisierung und am Internet und am Smartphone ist gut, sinnvoll, spannend, effizient.

Wir müssen als Individuum genauso wie als Gesamtgesellschaft einen neuen Umgang mit der Digitalisierung und dem Gebrauch von Geräten finden. Darüber sprechen, was uns stört, Grenzen ziehen, das Handy bei Gesprächen in der Tasche verschwinden lassen, es auf lautlos stellen, um die anderen nicht zu stören. Es mal ausschalten, zu Hause, ab 18 Uhr. Eine App installieren, die uns hilft, uns besser konzentrieren zu können. Oder einfach mal ganz offline gehen. Und Aus.

Anna Miller, Kirchenbote, 27.6.2017

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