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Bäume und Mystik

Alte Bäume wecken eine fast religiöse Ehrfurcht

von Hans Herrmann / reformiert.info
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09.10.2023
Wenn markante Bäume – wie jüngst eine der berühmten Dürsrüti-Tannen – gefällt werden, weckt dies in der Bevölkerung stets Emotionen. Diese wurzeln tief im kollektiven Empfinden, auch Religiöses schwingt mit.

Der Dürsrütiwald liegt oberhalb des Dorfes Langnau im Emmental auf Gebiet der Gemeinde Lauperswil. Hier wachsen schweizweit seit Jahrhunderten die dicksten Weisstannen, und auf der Website waldwissen.net wird dieser Wald gar als ein «Stück Waldgeschichte der Schweiz» bezeichnet.

Entsprechend horchte man auf, als jüngst publik wurde, dass Unbekannte bei Nacht und Nebel in diesem besonderen Stück Staatswald den letzten der ganz alten und ganz hohen Baumriesen gefällt hatten, unangekündigt und möglicherweise illegal.

«Die Fällung alter und besonderer Bäume war und ist für viele Menschen – wie auch für mich – eine sehr emotionale Sache», äussert sich dazu ein Leser in der elektronischen Kommentarspalte der «Berner Zeitung», und eine Leserin schreibt: «Ich bin in Langnau aufgewachsen und erinnere mich gut daran, als junges Mädchen auf Schulausflügen die Dürsrüti-Tannen besucht haben. Soo schöne Erinnerungen; tut mir leid, dass dies passiert ist.»

Unter den Augen der Ă–ffentlichkeit

So und ähnlich klingt es oft, wenn markante Bäume gefällt werden sollen. Dorf- und Stadtbehörden, die in offiziellen Communiqués die Fällung ortsbildprägender Bäume ankündigen, überlegen sich immer gut, wie sie die Notwendigkeit der Aktion begründen, und manchmal läuft ein halbes Dorf zusammen, um dabei zu sein, wenn die Profis die Motorsäge an den Stamm einer alten Eiche oder einer ehrwürdigen Linde ansetzen. Und bei Bäumen, die Denkmalcharakter haben wie etwa die Leuenberger-Linde im Emmentaler Dorf Rüderswil, wird oftmals einiger Aufwand betrieben, um sie am Leben zu erhalten.

Wer in den Dürsrüti-Wald geht, um einen Augenschein zu nehmen, begegnet an diesem schönen Sonntag im Herbst auffallend vielen Leuten, die gekommen sind, um der gefällten 350-jährigen Tanne, die wie ein erlegter Dionsaurier am Boden liegt, die letzte Ehre zu erweisen. Rasch kommt man miteinander ins Gespräch.

«Die Unbekannten, die hier am Werk waren, verstanden jedenfalls ihr Handwerk», sagt ein Mann im mittleren Alter, der ebenfalls etwas davon zu verstehen scheint. «Sehen Sie, hier haben sie einen hydraulischen Heber angesetzt, hier vermutlich einen zweiten – und der, der die Motorsäge führte, musste sie perfekt im Griff haben, um den Baum derart exakt zwischen den beiden anderen Bäumen da vorne hindurch zu bekommen.»

Vermutlich sei der Baum aus Sicherheitsgründen gefällt worden, denn gesund sei er nicht mehr gewesen, spinnt der Mann seinen Faden weiter. Er klopft an den Stamm. «Hören Sie, an dieser Stelle klingt es hohl und abgestorben.»

Bäume stehen aufrecht wie wir. Sind sie vielleicht unsere Verwandten in der Pflanzenwelt?

Ein anderer Spaziergänger ruft einem Mann, der eine noch stehende, ebenfalls auffallend stattliche Tanne fotografiert, munter zu: «Aha – ich sehe, du hast für die alte Tanne schon eine würdige Nachfolgerin gefunden.»

Was steckt hinter dem emotionalen Bezug, den viele Menschen zu «ihren» Bäumen haben? Schwingt hier noch etwas von der Heiligkeit mit, welche die alemannischen Siedler noch in vorchristlicher Zeit den Bäumen zuschrieben (s. Box)? Warum berührt die Fällung von alten Bäumen so sehr, während dies zum Beispiel bei alten Häusern eher selten der Fall ist?

«Naturverbundene Menschen leiden mit»

«Bäume sind Lebewesen wie wir Menschen», erklärt Kurt Zaugg-Ott, Leiter der Fachstelle Oeku Kirchen für die Umwelt. «Sie stehen aufrecht wie wir. Sind sie vielleicht unsere Verwandten in der Pflanzenwelt?» In Baummeditationen gehe es darum, sich wie ein Baum zu fühlen, die Verwurzelung im Boden zu spüren, das Wiegen im Wind. Und weiter: «Gerade Einzelbäume prägen Landschaften. Ältere Bäume haben mehrere Menschengenerationen begleitet.» So liege es nahe, dass diese Verbundenheit Emotionen auslöse – und dass naturverbundene Menschen mitlitten, wenn ein Baum gefällt werde.

Nebst dieser vor allem über die Natur definierte Verbundenheit hallt auch in diesen säkularen Zeiten etwas von der Bedeutung nach, die den Bäumen in der jüdisch-christlichen Religionstradition zukommt. Der Ostschweizer Pfarrer Siegfried Arends hat vor einigen Jahren für die Ökumenische Kampagne einen Baum-Stationenweg entwickelt und in einem liturgischen Werkheft ausgeführt. Unter anderem weist er darauf hin, dass sich im Alten Testament eine Anweisung findet, die das Fällen von fruchttragenden Bäumen vor einer belagerten Stadt verbietet. Für die Herstellung von Palisaden und Unterständen dürfe nur das Holz von Bäumen verwenden, «von denen du weisst, dass man nicht davon essen kann» (Dtn 20,19f). Daraus schliesst Arends: «Die Bibel stärkt so das Bewusstsein, dass Bäume und die Natur insgesamt der zukünftigen Generation als Lebensraum dienen und daher erhalten werden müssen.»

Poetisches aus der Bibel

Auch Kurt Zaugg-Ott verweist auf die Bibel. Psalm 1 beschreibe den Menschen, der auf den Wegen Gottes wandle, in diesen poetischen Worten: «Der ist wie ein Baum, an Wasserbächen gepflanzt: Er bringt seine Frucht zu seiner Zeit, und seine Blätter welken nicht. Alles, was er tut, gerät ihm wohl.» Auf heutige Zeiten übertragen: «Wenn der Geist Gottes in der Schöpfung irgendwo präsent ist, mag es für viele naheliegend sein, ihn in einem Baum zu suchen.» Bäume seien auf jeden Fall Orte der Verbundenheit – auch hin zum Göttlichen, verwurzelt in der Erde, zugleich dem Himmel entgegenwachsend.

 

Manche Bäume waren den Germanen und damit auch den auf heutigem Schweizer Territorium siedelnden Alemannen heilig. Die Eiche war dem Donnergott Donar, die Linde der Muttergöttin Freya geweiht. Und die Weltenesche Yggdrasil war in der germanischen Mythologie die Trägerin der Welt. Dass der heilige Bonifatius im Jahr 723 bei seiner Missionstätigkeit im Nordosten des Frankenreiches kühn eine Donar-Eiche fällte, um zu demonstrieren, dass der Christengott stärker sei als der germanische Donnerer, ist die wohl bekannteste Episode in seiner Vita.

Auch in der jüdisch-christlichen Tradition haben die Bäume eine besondere Stellung, beginnend beim Baum in der Mitte des Paradiesgartens, von dem die Menschen nicht essen durften – und es dennoch taten –, bis hin zu den königlichen Zedern des Libanon, den baumähnlichen Säulen im salomonischen Tempel oder dem jesuanischen Gleichnis vom Senfkorn, das trotz seiner Kleinheit zu einem grossen Baum heranwächst.

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