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Abschiedsvorlesung Uni Basel

Reinhold Bernhardt: «Im Mittelalter wäre ich auf dem Scheiterhaufen gelandet»

von Toni Schürmann
min
26.01.2024
Während zwei Jahrzehnten bekleidete Reinhold Bernhardt an der Universität Basel die Professur für Systematische Theologie/Dogmatik. In seiner Abschiedsvorlesung über das Tragische bezeichnete er den Kreuzestod als ein an sich sinnloses Geschehen. 

Um es gleich vorweg zu nehmen: Sinnlos war sie nicht, die Abschiedsvorlesung von Reinhold Bernhardt, die er selbst als nicht gerade leicht und wenig bekömmlich taxierte. Unter dem Titel «Das Tragische und Sinnlose als Thema der Theologie» reflektierte Bernhardt über Aspekte, die er schon bei seiner Antrittsvorlesung thematisierte. Mit ironischem Unterton merkte er an, dass man nun daraus schliessen könnte, er sei in all den Jahren keinen einzigen Schritt weitergekommen. Dies stellten die zuvor gehaltenen Ansprachen von Andrea Schenker-Wicki, Rektorin der Universität Basel, Moisés Mayordomo, Dekan der Theologischen Fakultät Universität Basel, und Rita Famos, Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz, allerdings kategorisch in Abrede.

Phänomenologie des Tragischen

Im Alltagssprachgebrauch werde der Begriff des Tragischen oft unspezifisch verwendet, sagte Reinhold Bernhardt. Schon Hegel habe diesen unreflektierten Sprachgebrauch kritisiert. «Wenn jemand stirbt, ist dies traurig, aber nicht tragisch.» Die tragische Situation erläuterte Bernhardt anhand dreier Beispiele: dem natürlichen Tod eines Menschen, der Brandkatastrophe der Standseilbahn von Kaprun im Jahr 2000 und dem Brand der Kapellbrücke 1993 in Luzern, bei dem zwar kein Mensch zu Schaden gekommen ist, aber ein wertvolles Bauwerk zerstört wurde. 

Bei der Feuersbrunst der Kapellbrücke liegt das Tragische nicht in der Handlung selbst, sondern im unglücklichen Umstand, dass die Zigarette auf einen entzündlichen Ort gefallen ist.

Gemäss Hegel ist der Tod eines Menschen – wie erwähnt – kein tragisches Ereignis. Wenn der Tod aber zur Unzeit eintritt, etwa vor Vollendung eines Lebenswerks, dann hat dies die bittere Qualität des Tragischen. Beim Brand der Standseilbahn in Kaprun kamen 155 Menschen ums Leben. Wäre das Unglück nicht im Tunnel passiert, hätte es vermutlich keine Toten gegeben. Und bei der Feuersbrunst der Kapellbrücke – ausgelöst durch eine achtlos weggeworfene brennende Zigarette – liegt das Tragische nicht in der Handlung selbst, sondern im unglücklichen Umstand, dass die Zigarette auf einen entzündlichen Ort gefallen ist. Wäre die Zigarette nur ein paar Zentimeter weitergeflogen, wäre nichts passiert. In all diesen Beispielen mache das Geschehene keinen Sinn. Es tritt rein zufällig auf.

Es gebe aber noch eine andere Erscheinungsform der Tragischen: den tragischen Konflikt. Dabei bestehe das Tragische in einem Antagonismus, einem unlösbaren inneren Dilemma. «Jede mögliche Handlungsoption stellt keine wirkliche Lösung dar. Solche Konfliktsituationen finden wir in den attischen und auch neuzeitlichen Tragödien – wie beispielsweise bei Shakespeare.» Als aktuelles Beispiel dafür nannte Bernhardt den überzeugten Pazifisten, der Gewalt anwenden muss, um Leben zu schützen.

Das Sinnlose 

Man könne von Sinn und damit auch von Sinnlosigkeit auf vier Ebenen sprechen: des Denkens, des Handelns, der Erfahrung und des Lebens insgesamt. Auf der theoretischen Ebene, also der Ebene des Denkens, ist das Sinnlose das Irrationale, das Unvernünftige, das Undurchschaubare, das Unverstandene, das Bedeutungslose, das sich nicht in einen Zusammenhang einordnen lässt.  Auf der praktischen Ebene des Handelns ist das Sinnlose das Zwecklose, das Dysfunktionale. Es dient nicht dem Erreichen eines Ziels, sondern kann sogar kontraproduktiv sein. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für das Sinnlose auf der dritten Ebene, der Erfahrung. Hier besteht das Sinnlose darin, dass die Geschehensabläufe im Blick auf die mit ihnen verbundenen Erwartungen fruchtlos oder sogar schädlich sind. Es ist nichts Gutes darin erkennbar, es nützt niemandem. Und auf der vierten, der existenziellen Ebene besteht das Sinnlose im Verlust von Halt im Leben und damit im Gefühl der eigenen Verlorenheit. Nicht jede Sinnlosigkeit ist tragisch. Zwar überschneiden sich die Begriffe, sie sind aber nicht deckungsgleich.

Theologische Überlegungen

Reinhold Bernhardt hat festgestellt, dass – im Gegensatz zu Themen wie das Böse, das Übel und das Leiden – das Sinnlose und Tragische in der Theologie nur selten diskutiert wurde. Wenn es im Zusammenhang mit Unheilserfahrungen thematisiert wurde, stopfte man es jeweils mit Sinn aus. Die Annahme, dass es Ereignisse und Konflikte gibt, die abgrundtief sinnlos sind, vertrug sich nicht mit den zwei Basisannahmen des Christentums: der schöpfungstheologischen (die Welt als gute Schöpfung Gottes) und der christologisch-soteriologischen (Heil in Christus). 

Gemäss Karl Barth ist die tragische Not keine wirkliche, das Sinnlose ist aus christlicher Sicht eine Art Verblendung. Für Reinhold Bernhardt hingegen besteht die Gefahr, dass die Erfahrung der Sinnlosigkeit nicht ernst genug genommen werde. Es gebe aber Ereignisse, die als sinnlos erfahren werden. Diese Erfahrung müsse ernst genommen werden – insbesondere in der Seelsorge. Die Sinnlosigkeit könne man nicht ausschalten, man könne sie bestenfalls aushalten. Oft werde versucht, die Sinnlosigkeit auf eine höhere Ebene zu stellen, um ihr doch noch eine Sinnhaftigkeit zu geben. Bernhardt sieht den Leidensweg Jesu und dessen bitteres Ende als Resultat tragischer Situationsumstände, in die sich Jesus mehr oder weniger absichtsvoll – mit desaströsen Folgen – hineinbegeben hat. Als geschichtliches Geschehen ist der Kreuzestod Jesu für ihn ein abgrundtief sinnloses Geschehen. «Für diesen Satz wäre ich im Mittelalter auf dem Scheiterhaufen gelandet.»

Allerdings dürfe man auch nicht ins andere Extrem fallen und behaupten, dass restlos alles sinnlos ist. Das wäre Nihilismus. 1876, in der Zeit, als Friedrich Nietzsche in Basel war, schrieb der Philosoph: Tragisch gesinnt sein, heisst, damit zu rechnen, dass einem Menschen «schon im kleinsten Augenblick, im kürzesten Atom seines Lebenslaufes etwas Heiliges begegnet, das allen Kampf und alle Not überschwenglich aufwiegt».

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