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«Luther hat eine historische Leistung vollbracht»

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24.11.2016
Protestanten in aller Welt feiern 2017 das 500. Reforma­tionsjubiläum. Der deutsche Bundes­präsident Joachim Gauck, ­früher selbst Pfarrer in Rostock, darüber, ob der Reformator Martin Luther heute noch ein Vorbild sein kann.

Herr Bundespräsident, im Oktober wurde das Jubiläumsjahr zur Feier des 500. Reformationsjubiläums eröffnet. Sie waren selbst evangelischer Pfarrer. Was fasziniert Sie an Luther?
Angefangen hat es mit dem Choral «Ein feste Burg ist unser Gott». Schon als relativ kleiner Junge, geboren im Krieg und als Schüler in der DDR-Diktatur, erlebte ich, wie eine ganze Gesellschaft aus Angst Anpassungsmechanismen entwickelte und ihre Knie beugte vor den Herren dieser Welt. Und dann lernte ich in der Christenlehre: «Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen, er hilft uns frei aus aller Not» – das war stark. Es vermittelte Selbstvertrauen gegenüber den gleichen Herren dieser Welt. So kam, lange bevor ich mich theologisch mit der Rolle Martin Luthers befasst habe, eine frühe Prägung einfach durch einen Choral aus dem Gesangbuch. So etwas lagert sich tief ein in der Seele eines Menschen.

Luther war ein Kind seiner Zeit. Heute steht sein Verhältnis zur Obrigkeit in der Kritik, erst recht seine antisemitischen Äusserungen. Kann der Reformator dennoch als Vorbild gelten?
Luther hat einen Epochenwandel hin zur Moderne angestossen – ich denke schon, dass er Vorbild sein kann. Auch wenn uns antijudaistische oder gar antisemitische Haltungen bestürzen und wir sie strikt ablehnen: Wir sollten historische Figuren in ihrer Zeit und vor allem in deren Denkmustern sehen und verstehen. Luther hatte zum Beispiel einen Zug seiner Zeit an sich, der als Grobianismus bezeichnet wird. Den wendet er überall an. Und da ist er nicht der Einzige, wenn wir Literatur und Predigten aus diesen Jahren anschauen. Wichtig bleibt, dass die evangelische Kirche die Augen nicht vor den Fehlern und Verstrickungen der Reformatoren und der reformatorischen Kirchen verschliesst und auch die unselige Wirkungsgeschichte aus dem Schatten ins Licht geholt worden ist.

Worin besteht Luthers Leistung?
Luther hat eine welthistorische Leistung vollbracht. So ein mittelalterlich geformter Christ, noch geprägt von der Furcht vor dem Teufel, entwickelt Schritt für Schritt eine Sicht auf den einzelnen Menschen, die mit einem ganzen Weltbild bricht. Das ist eigentlich der Beginn der Moderne. Er rückt die Rolle des Individuums ins Zentrum. Auch seine Idee des Priestertums aller Gläubigen ist ein unglaublicher Protest gegen eine jahrhundertelang fest gefügte Institution und gegen kirchliche Obrigkeit. Er hat damit den Weg zur Idee der Würde jedes einzelnen Menschen gebahnt.

Ist Luthers Prinzip von der «Freiheit eines Christenmenschen», der niemandem und zugleich jedermann untertan sein soll, eine brauchbare Leitschnur für Politiker?
Luthers Schriften kann man sicher nicht eins zu eins in politisches Handeln übersetzen. Wir sollten vor allem sehen, dass Politik heute Wertvorstellungen hat, nach denen sie handelt und so die kleinen Schritte zum Besseren gestaltet. Und hier kann Luthers Verständnis von der Freiheit, die eben nicht nur Freiheit von etwas, sondern vor allem Freiheit zu etwas ist, sicher als Orientierung dienen.

Erleben wir derzeit eine Zunahme des Destruktiven in unserer Gesellschaft?
Auch wenn wir das als Phase derzeit erleben und sehr ernst nehmen müssen: Der Blick in unsere Geschichte kann uns etwas gelassener sein lassen, als wir es manchmal sind. Denken wir an die frühen Auseinandersetzungen in der alten Bundesrepublik, an den Streit um die Wiederbewaffnung, die Westbindung, die schlimmen Zeiten des RAF-Terrorismus. Das war teilweise beunruhigender und bedrückender als die gesellschaftlichen Verhältnisse in unserem Land heute.

Und wo stehen wir heute?
Wir befinden uns in einer Zeit, in der allzu oft Anstandsregeln und Respekt missachtet werden, dem Andersdenkenden nicht mit dem Argument begegnet wird, sondern teilweise mit Bosheit und Hass. Die dahinterliegende Wut passt aber so gar nicht zu den Verhältnissen, in denen wir heute leben: Zu der Rechtssicherheit, zu unseren stabilen Institutionen, zu der sozialen Sicherheit, zu Demokratie und der Freiheit jedes Einzelnen – so wie wir es niemals zuvor in Deutschland hatten.

Der ‹altböse Feind›, wie er bei Martin Luther hiess,
heisst heute Verführungsgesellschaft.
Sie redet dir ein:
Kümmere dich nur um dich,
amüsiere dich, Konsum ist
alles. 


Warum wird das von manchen nicht erkannt?
Auch weil einige Bürger mit der offenen Gesellschaft hadern. Der Mensch traut sich das Lebensprinzip von Freiheit und Verantwortung nicht unbedingt immer zu. Das äussert sich jetzt als Furcht vor den Veränderungen der Moderne oder als Furcht vor der Unübersichtlichkeit in einem vereinigten Europa und einer globalisierten Welt. Diese Furcht mag nicht immer rational sein, aber viele Menschen empfinden so.

Wie soll man damit umgehen?
Wir – also alle politisch Verantwortlichen, aber auch jeder Bürger, dem ein friedliches Miteinander am Herzen liegt – müssen den Leuten sagen: Schaut Eure Ängste an und schaut die Realität an und vergleicht beides. Ausserdem dürfen die Menschen nicht unter sich bleiben mit ihrer Furcht vor Veränderung, vor dem Risiko und vor dem Fremden. Sonst kommt es zu den Prozessen einer sich steigernden inneren Erregung, vor allem auch durch die sozialen Medien. Das bricht dann irgendwann heraus und explodiert.

Also nicht ausgrenzen?
Diejenigen, die unzufrieden sind mit der Politik, sollten keinesfalls automatisch abgestempelt werden. Und denen, die sprechen wollen und Argumente benutzen, sollte jede Brücke gebaut werden. Aber nicht denjenigen, die mit Hass oder Wut oder sogar mit Straftaten auf eine Gesellschaft und ihre politischen Vertreter reagieren. Ihnen sollte jeder von uns, jeder an seinem Platz, entgegenhalten: Ihr könnt hassen, soviel Ihr wollt. Dieses Deutschland werdet Ihr nicht in die Hand bekommen. Wir leben nicht in der Weimarer Zeit.

Welche Erwartungen haben Sie an das Reformationsjubiläum?
Für mich ist es eine Chance, dass eine moderne, suchende Gesellschaft in einer verführbaren Welt sieht, dass es mit Luther eine historische Gestalt gibt, die bei der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit hilft und Gottvertrauen schenken kann. Der «altböse Feind», wie er bei ihm hiess, heisst heute Verführungsgesellschaft. Sie redet dir ein: Kümmere Dich nur um Dich, amüsiere dich, Konsum ist alles. Aber wir können von dieser in eine an Werten orientierte Welt wechseln. Es gibt keine Instanz, die dich zwingt, in der Banalität zu verharren. Auch dafür steht Martin Luther.

Welche Hoffnungen haben Sie auf weitere Schritte in der Ökumene, vielleicht auf ein gemeinsames Abendmahl?
Hier habe ich gelernt, meine Wünsche zu begrenzen. Die versöhnte Vielfalt ist für mich eine positive Normalvorstellung. Es gibt inzwischen bei allen Problemen, mit denen wir konfrontiert sind, so viel, was uns zusammenbringt. Da fallen die Dinge, die uns trennen, nicht mehr so sehr ins Gewicht wie früher. Und solange sich ein Teil der Christen noch kein gemeinsames Abendmahl vorstellen kann, braucht es eben noch Zeit.

24.11.16 / Corinna Buschow und Thomas Schiller, epd.de

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