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So nah und doch so fern

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26.01.2017
Wenn die Mutter an Demenz erkrankt. – Anna Ruh lebt in der Welt ihrer Kindheit. Ihre fortschreitende Demenz löscht die Gegenwart aus. Für ihre Familie bedeutet das Abschied im Leben. Das kostet Kraft. Trotzdem bleibt die Verbindung im Herzen stark.

«Zum ersten Mal realisierten wir die Demenz meiner Mutter im Dezember 2012. Da stand sie eine Woche vor Heiligabend bei uns vor der Tür und wollte Weihnachten feiern», sagt Christine Meister*. Sie und ihr Mann Thomas* erzählen die Geschichte von Christines Mutter Anna Ruh*. Anna ist heute 90 Jahre alt und lebt im Altersheim auf der Demenzabteilung. 85 Jahre ihres Lebens war sie geistig präsent und bereit, für andere da zu sein. «Meine Mutter war glücklich, wenn sie eine Aufgabe hatte», sagt Christine und hält für einen kurzen Augenblick inne. «Ich glaube, es war wichtig für sie, gebraucht zu werden».

Christine und Thomas erzählen von Annas Kindheit als Bauerntochter im Züricher Weinland, von ihrer Arbeit als Hauspflegerin und von ihrer Heirat im Jahr 1950 mit Christines Vater. Von den Geburten der beiden Töchter. Christine erinnert sich an eine liebevolle und fürsorgliche Mutter, die gerne nähte und viel unternahm mit den Kindern. Später freute sie sich, wenn sie die Enkel hüten konnte und half gerne aus. Nach dem Tod ihres Mannes lebte Anna Ruh noch 20 Jahre lang allein in der Familienwohnung. Bis die Diagnose Demenz im Jahr 2013 ihrer Selbstständigkeit ein Ende machte.

Lebenswertes Leben

«Die Krankheit zeigte sich schleichend innerhalb eines Jahres», erzählt Christine. Einen Moment lang ist es still. Dann sagt sie bestimmt: «Wir machen uns Vorwürfe, weil wir es erst so spät realisiert haben. Aber meine Mutter konnte ihren Zustand meisterlich kaschieren.» Kleine Dinge liessen schliesslich aufhorchen: Anna habe nicht mehr richtig gegessen, den Briefkasten nicht mehr geleert. Medikamente, die sie verteilt über die Woche hätte einnehmen sollen, nahm sie entweder alle auf einmal oder gar nicht.

Anna zog ins Pflegezentrum, bis ein geeigneter Platz in einem Altersheim gefunden werden konnte. «Im Pflegezentrum erhielten wir zum ersten Mal die Diagnose ‹Weit fortgeschrittene Demenz›», sagt Christine. «Der Arzt erklärte uns, dass grosse Teile des Gehirns verkalkt seien. Und dass dies nicht besser, sondern schlimmer werde.» Die Diagnose habe erleichtert und traurig gemacht: «Wir wussten jetzt wenigstens, womit wir es zu tun haben», sagt Christine. Und Thomas: «Wir haben uns gefragt, inwiefern das Leben für Anna jetzt noch lebenswert ist.» – Die Mutter lebe inzwischen ganz in ihrer eigenen Welt. «Sie sagt oft, sie müsse noch Hausaufgaben machen oder sie habe die Kinder im Bett zum Hüten», erzählt Christine. Abends verlange sie ständig nach ihrer älteren Schwester, die seit 20 Jahren tot sei. «Meine Mutter lebt vorwiegend in der Zeit ihrer Kindheit und Jugend.»

Manchmal wisse sie nicht, wer wer ist. «Sie weiss schon, dass wir irgendwie zu ihr gehören, weiss aber nicht, wer Tochter, Schwiegersohn oder Enkelin ist», sagt Thomas. Der Umgang mit ihr brauche viel Geduld. «Sie kann in einer Viertelstunde gefühlte fünfzig Mal dasselbe fragen», sagt Christine, «da reisst mir manchmal der Geduldsfaden.»

Die Mutter sei auch schon aus dem Altersheim ausgebüxt. «Es war November und eiskalt, sie hätte draussen erfrieren können», erzählt Christine. Nach stundenlangem Suchen konnte Anna schliesslich von der Polizei in einer Bäckerei aufgegriffen werden, nach einer Irrfahrt mit dem Taxi. «Als ich ankam, streichelte sie einem der Polizisten den Arm und sagte: ‹Mir geht es gut, ich habe drei schöne Männer bei mir!› Da hätte ich ausrasten können, weil ich solche Angst hatte um sie.»

Noch irgendwie da

Unter der Woche wechseln sich Christine und Thomas mit den Besuchen bei Anna ab, am Sonntag gehen sie meistens gemeinsam hin. «Manchmal frage ich mich, ob das überhaupt gut ist», überlegt Thomas. «Anna scheint glücklich zu sein in ihrer eigenen Welt. Wenn wir kommen, reissen wir sie ein Stück weit daraus heraus.» Die Krankheit sei eine Bürde für die Angehörigen. «Ich würde viel dafür geben, um zu wissen, wie sie sich fühlt, wie sie das Leben und sich selber wahrnimmt, aber das ist nicht mehr möglich.» Und das Angebundensein durch die regelmässigen Besuche sei belastend. Da bleibe wenig Zeit für anderes.

Christine nickt zustimmend. Sie überlege sich manchmal, wie es wäre, wenn Anna nicht mehr da wäre. «Ich hätte weniger Stress, aber sie würde mir auch fehlen», sagt sie. Manchmal sei es aber auch heiter mit Anna. Christine und Thomas schmunzeln und erzählen: «Wenn wir einander anlächeln, fragt sie zum Beispiel, ist noch einmal ein Kindlein unterwegs?»

Auf die Frage, ob sie die Mutter von früher vermisse, antwortet Christine mit einem klaren Nein. «Sie ist ja noch irgendwie da, wenn auch nicht mehr als Gesprächspartnerin. Die Verbindung im Herzen ist stark.»

Adriana Schneider, Kirchenbote, 26.1.2017

*Namen von der Redaktion geändert

 

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