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«Selbst wenn Sie nur noch im Bett liegen, haben Sie alle Würde»

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26.01.2017
Michael Schmieder ist Pflegeheimleiter der «Sonnweid». Das Heim leistet bei der Betreuung von dementen Menschen Pionierarbeit. Der Ethik-Experte kämpft dagegen, dass man die Betroffenen als bescheuert abtut.

Herr Schmieder, für viele ist die Diagnose Demenz der schlimmste Albtraum. Ist das berechtigt?

Grundsätzlich ja. Für viele ist die Vorstellung grauenhaft, allmählich die Kontrolle über sich, sein Denken und Handeln zu verlieren und nicht mehr zu wissen, wer und wo man ist.

Autonomie und Freiheit gelten als hohe Werte. Umso gravierender ist es, sie in der Demenz zu verlieren.

Man befürchtet, als dementer Mensch führe man ein würdeloses Leben. So, als hänge die Würde von den kognitiven Fähigkeiten ab. Heute will jeder autonom sein, selbst wenn wir im Leben selten frei entscheiden. Wir sind immer in ein System eingebunden und abhängig von anderen.

Trotzdem: Ist es nicht würdelos, nur noch im Bett zu liegen, nichts zu wissen, nicht sprechen zu können und gefüttert zu werden?

Selbst wenn Sie nur noch im Bett liegen, haben Sie alle Würde, die es gibt. Sie ist unabhängig von unseren Fähigkeiten. Andere können uns in Situationen bringen, in denen wir uns schämen. Da wird unsere Würde missachtet. Sie geht aber nicht verloren.

Was meinen Sie konkret?

Wenn beispielsweise ein Pfleger zu einer Betagten, die verstuhlt auf dem Boden liegt, sagt: «Jetzt haben Sie wieder in die Hosen geschissen!» Der Pfleger bringt diese Frau in eine unwürdige Situation. Er beschämt sie. Stattdessen sollte er versuchen, die Situation zu lösen. 

Geschieht dies oft?

Ich glaube nicht. Das Personal ist für solche Situationen sensibilisiert. Da sind wir heute einen Schritt weiter.

Ihr Buch trägt den Titel «Dement, aber nicht bescheuert». Warum?

Meine Co-Autorin Uschi Entenmann und ich wollten einen Gegenentwurf schreiben, zu dem, was man sich landläufig unter Demenz und Pflegeheim vorstellt. Auch wenn jemand an schwerer Demenz leidet, ist er nicht blöd. Er kann nur bestimmte Sachen nicht. Die Gefahr, dass man die Betroffenen als bescheuert und dumm betrachtet, ist gross. Dieser landläufigen Meinung wollten wir mit dem Buch widersprechen.

Wie beschreiben Sie die Krankheit?

Demenz bedeutet den Verlust der kognitiven Fähigkeiten.  Sie ist ein Türöffner in eine Welt, in welcher der Mensch das hinter sich lässt, was uns wertvoll erscheint.

Sie schreiben, Demenz anerkennen, bedeutet, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft zu leben, sondern ganz in der Gegenwart.

Ja, es gibt nur das Jetzt. Das Jetzt kann jedoch auch dreissig Jahre zurückliegen. Betagte Frauen vergessen oftmals, wie alt sie sind. Besucht sie ihr Ehemann, so können sie sich nicht daran erinnern, einen so alten Mann zu haben. Manchmal verwechseln sie ihren Sohn mit ihrem Mann.

Man spricht dementen Menschen die Lebensqualität ab.

Die Lebensqualität ist sicher nicht geringer als bei Gesunden. Doch in der Krankheit gibt es eine schwierige Phase, in der man merkt, wie vergesslich und eingeschränkt man wird. Für viele ist dies ein Stress. Im Heim fällt dieser Druck weg. Wir verlangen nichts. Unser Ziel ist es, im Heim einen sorglosen und stressfreien Alltag zu schaffen. Viele haben die falsche Vorstellung, dass Demente den ganzen Tag schreien und aggressiv um sich schlagen.

Sind auch glückliche Momente möglich?

Jeder Tag ist wieder anders. Ausserdem: Wenn ich mich selbst als glücklich erlebe, spielt es doch keine Rolle, wie ich tatsächlich bin. In der «Sonnweid» lebt ein Mann, der jeden Tag sagt, morgen gehe er auf den Berg. Am Abend erzählt er, er sei auf einer Bergtour gewesen. Für ihn ist dies eine Realität.

Er freut sich über seine Bergtouren.

Ja. Wir können uns nicht vorstellen, was in den Hirnwindungen geschieht.

Oft hört man, bevor ich dement werde, bringe ich mich um. Gunther Sachs nahm sich das Leben. Der Publizist Walter Jens, der an Demenz erkrankte, wollte mit einer Sterbehilfeorganisation aus dem Leben scheiden.

Der Wunsch nach begleitetem Suizid kommt vor allem in der anfänglichen Phase der Krankheit auf. Die Betroffenen stehen unter einem emotionalen Druck. Sie stehen dauernd vor der Frage, wann ist der richtige Moment, um sich das Leben zu nehmen. Sie müssen ständig vom Psychiater ihre Urteilsfähigkeit überprüfen lassen, bevor es dann zu spät ist. Ich denke, es ist einfacher, man lässt die Krankheit auf sich zukommen.

Hat Exit Zugang zur Klinik Sonnweid?

Nein, die Leute, die bei uns eintreten sind nicht mehr urteilsfähig. Wir wollen die Lebensqualität der Menschen verbessern. Wir sind keine Sterbeklinik.

Für die Angehörigen ist die Krankheit eine Heraus- und Überforderung. Der Ehemann oder die Ehefrau, die eigene Mutter oder der Vater verändert sich vollständig. Was raten Sie in dieser Situation?

Es gibt keine Regel. Wir haben Bilder davon, wie unsere Liebsten in der Vergangen--
heit waren. Wir leiden, wenn wir sehen, wie sie jetzt sind. Den einen gelingt es besser, damit umzugehen, den anderen schlechter. Einigen hilft es, wenn sie sich begleiten lassen und Hilfe holen. Für Söhne und Töchter ist es ein unglaublicher Einschnitt, wenn der Vater oder die Mutter sie nicht mehr erkennt. Das ist grausam.

Ergibt es Sinn, jemanden in diesem Zustand noch zu besuchen?

Wenn mir jemand erklärt, er besuche seinen Vater nicht mehr, er erkenne ihn ja nicht, dann sage ich, sie kennen jedoch ihn. Sie haben doch eine Beziehung zu ihm. Das Argument, er kennt mich nicht, ist eine fadenscheinige Begründung, da ich die Situation nicht aushalte.

Sie kritisieren, dass demente Menschen belogen werden. In Deutschland haben Altersheime Pseudo-Bushaltestellen, in denen Verwirrte stehen und warten. Sie wollen nach Hause fahren, doch der Bus wird nie kommen.

Niemand will angelogen werden. Ich glaube nicht, dass dies der richtige Umgang ist. Es ist ein Unterschied, ob eine Institution etwas vorlügt, oder der Einzelne in der schwierigen Situation zur Notlüge greift. Etwa wenn ich einem Patienten, der im Nachthemd im Schnee draussen steht, friert und nicht hinein will, sage, seine Frau warte drinnen auf ihn – was nicht stimmt.

In Bern gibt es ein Heim, wo den Insassen per Monitor eine Zugfahrt in einem 1. Klass-Abteil vorgegaukelt wird.

Solche virtuellen Einrichtungen werden noch zunehmen. Trotzdem glaube ich, dass wir verpflichtet sind, den Menschen ehrlich zu begegnen.

Sie plädieren für einen neuen Umgang mit Demenzkranken. Wie sieht der aus?

Grundsätzlich sehen wir, dass Menschen mit Demenz nicht gerne alleine sind. Das nimmt zu mit der Erkrankung. Deshalb haben wir vor allem Zweierzimmer. Wir haben in der «Sonnweid» aber auch zwei Pflege-oasen. Dort leben einmal 8 und in der anderen 11 Personen in einem sehr grossen Raum.

Neulich legte ich mich dort für 24 Stunden ins Bett. Ich wollte erfahren, was die Betroffenen erleben und was man verbessern könnte. Nach zehn Stunden brach ich ab. Ich war stolz auf das, was ich sah. Eine junge Pflegerin ging am Abend zu jedem Bewohner, erklärte ihm, was sie jetzt macht, und nahm zum Schluss seine Hand und wünschte ihm eine gute Nacht. Sie sagte dies in einem normalen Tonfall und nicht als würde sie mit einem Kind sprechen.

Sie begegnen den dementen Menschen auf gleicher Augenhöhe.

Wir sehen die Betroffenen als Partner. Wir wollen die Demenzkranken nicht bevormunden. Nur weil wir gesund sind, sind wir nicht besser. Unser Personal lebt diese Haltung und nimmt sich die entsprechende Zeit. Das sind die Werte, die wir in der «Sonnweid» leben möchten. Natürlich gelingt dies nicht immer.

Interview: Tilmann Zuber, Kirchenbote, 26.1.2017

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