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Müssen wir uns bekehren?

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23.05.2017
Bekehrungen fordern die Landeskirchen heraus. Sind diese nicht sektiererisch? Nein, meint Theologieprofessor Ralph Kunz.

Ralph Kunz, haben Sie schon eine Bekehrung erlebt?

Ja.

Wirklich?

Ja, gerade gestern.

Was ist geschehen?

Ich bin vom Gesang einer Amsel überrascht worden. Sie hat so schön gesungen, dass die Welt für einen Ohrenblick lang paradiesisch geklungen hat.

Das klingt ja nicht dramatisch.

Bekehrungserlebnisse lassen sich mit Perspektivenwechseln vergleichen. Man erfährt dabei etwas unerhört Neues. Es gibt unterschiedliche Ebenen von Bekehrungen: kleinere, mittlere und grosse Bekehrungen.

Dann besteht das Leben aus dauernden Bekehrungen?

Ja. Es ist hoffentlich unser tägliches Brot als Christenmenschen, dass wir uns ständig zurückorientieren auf die Hoffnung vom Reich Gottes, auf Jesus und den Heiligen Geist. Wie Luther vor 500 Jahren sagte: «Busse ist ein tägliches und fröhliches Geschäft.»

Und die grosse Bekehrung?

Das sind Momente, in denen ich so erschüttert werde, sodass sich mein Orientierung- und Weltverständnis komplett neu ausrichtet. Es ist eine Gesamtrenovation meiner Existenz. Meine psychische Gesundheit verträgt nicht zu viele solcher grossen Momente.

Die meisten Landeskirchler würden sich gegen eine Bekehrung wehren. Sie sprechen eher davon, dass sie in der reformierten Kirche sozialisiert worden sind.

Sozialisation bedeutet ja nicht, dass ich mich nur an das bestehende System anpasse. Was wäre das für ein Glaubensleben, wenn ich nur das nachspreche, was man mir vorsagt? Sozialisation heisst, dass ich in einer Glaubensgemeinschaft mündig werde, Anstösse zur Neuorientierung bekomme und Entscheidungen treffe. Wer wie die Reformierten das «selber denken» hochhält, will auch selber glauben.

Ein Freikirchler hingegen würde behaupten, die Umkehr zu Gott ist total oder nicht.

Ich weiss nicht, ob diese Unterstellung zutrifft. Es gibt ein moralisch verengtes Verständnis von Sünde, Reue und Bekehrung. Die Bekehrung ist jedoch keine religiöse Trophäe – sie ist meine existenzielle Antwort auf den Ruf Gottes, der weiterruft.

Einer der prominentesten Bekehrten ist Paulus. Auf dem Weg nach Damaskus erschien ihm Christus. Aus Saulus wurde Paulus. Wie kann man diese Geschichte verstehen?

Ob Paulus gestolpert oder vom hohen Ross gefallen ist, weiss ich nicht. Auf jeden Fall ist ihm auf dieser Reise etwas widerfahren, das sein Leben auf den Kopf gestellt hat. Ich denke, das Erlebnis bringt auf einmalige und dramatische Weise auf den Punkt, was eine grosse Bekehrung bedeutet.

Einen Einschnitt ins Leben. Franz von Assisi verschenkte nach seiner Bekehrung sein Hab und Gut. Die Eltern und das Umfeld hielten ihn für verrückt. Hatten sie Recht?

Ja, für sie war Franz verrückt. Bei einer Bekehrung entsteht ein Konflikt zwischen den Normen der Umwelt und dem, was der Bekehrte erlebt. Manni Matter schrieb in einem Lied über Noah «und me begrifft, dass d’ lüüt hei gseit, däm maa, däm spinnts». Auch Jeremia, Jesaja, Amos, König David, Jesus und Paulus wurden als Verrückte abgestempelt.

Im Vorfeld einer Bekehrung steht oftmals eine Krise.

Ich wäre zurückhaltend mit der These, es muss dir schlecht gehen, um zu Gott zu gelangen. Die Vereinfachung ist falsch. Eine Krise ist nicht immer eine Katastrophe und der Auslöser nicht zwingend eine böse Tat. Krisen geschehen ja oft in Übergangsphasen, etwa wenn Jugendliche erwachsen werde. Krisen öffnen Räume, in denen sich neue Selbst-, Welt- und Gottesbilder entwickeln können.

Kann man eine Bekehrung herbeibeten, etwa in einer Evangelisation?

Es gibt einen Evangelisationsstil, bei dem mit Druck Bekehrungen erzwungen werden. Menschen mit Höllenangst und Himmelsversprechungen dazuzubringen, sich für Jesus zu entscheiden, ist mehr als nur stillos. Ich habe da grosse theologische Vorbehalte. Gewalt hat im Glauben nichts zu suchen.

Wie soll die Familie, der Ehepartner damit umgehen, wenn jemand behauptet, Gott habe zu ihm gesprochen?

Wenn jemand plötzlich sein Leben ändert, täglich die Bibel liest, einen Hauskreis und Gottesdienste besucht, kann das ein säkulares Umfeld irritieren. Doch was ist daran negativ, wenn sich negative Verhaltensmuster ändern? Wenn beispielsweise einer mit dem Trinken aufhört und seine Familie nicht mehr schlägt? Andererseits ist es natürlich problematisch, wenn sich jemand radikalisiert und glaubt, er gehöre nun zu den Auserwählten und das Umfeld sei verloren. Die Frage ist doch, führt die Bekehrung zu einer sektiererischen Abkapselung oder befreit sie den Menschen zu einer Menschlichkeit, wie sie Jesus vorlebte.

In der Geschichte wimmelt es von Bekehrungen: Kaiser Konstantin erschien ein Kreuz, Jeanne d’Arc die Maria. Fehlen heute solche Ereignisse?

Vielleicht bei uns. Global gesehen bildet Europa eine säkulare Insel. Die Welt um uns herum ist ein paar Zacken religiöser. Insgesamt herrscht bei uns ein gesellschaftliches und kulturelles Klima, in dem das Religiöse an den Rand, marginalisiert und pathologisiert wird. Wir leben in einer geistigen Atmosphäre, in dem Bekehrungserlebnisse anormal sind.

Ist der christliche Glaube ohne Bekehrung denkbar?

Nein. Denn die Bekehrten fragen danach, was vor Gott heil macht, erfüllt und wieder ganz werden lässt, um in der Welt ein gutes Leben zu führen.

Interview: Tilmann Zuber, Kirchenbote, 23.5.2017

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