Wem die Liebe fehlt, der verkümmert
Was ist Nächstenliebe? Ein göttliches Gebot oder das Produkt des Hormonhaushalts, dem die Medizin nachhelfen kann? Der Psychiater Samuel Pfeifer sieht das anders: «Die Wirkung von Medikamenten, um Menschen beziehungsfähig zu machen, wird in der Öffentlichkeit stark überschätzt. Ohne Grundstruktur zu prosozialem Handeln sind alle Hormone und Medikamente nichts – nur dröhnender Gong, in Anlehnung an den Korintherbrief.»
Zuerst gelte es, Menschen, die keine sozialen Kontakte mehr aufbauen können, zuzuhören. Dieses Zuhören vergleicht Pfeifer mit dem Abnehmen einer Beichte, bei dem Ich-bezogene Themen ebenfalls dominieren. Das biblische Gebot der Nächstenliebe nennt explizit, dass der Mensch sich auch selber lieben solle. Samuel Pfeifers erlebt in seiner Arbeit meist, wie Menschen sich von anderen zu stark vereinnahmen lassen und sich dabei selber vergessen – also eher zu viel Nächsten- und zu wenig Eigenliebe.
«Die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen und Nächstenliebe zu leben, ist eine empirische. Wer in seinem Leben Liebe erfahren hat, Freunde gewinnen konnte und Bestätigung erhielt, kann – meistens – anderen Menschen diese Werte weitergeben. Wem das fehlt, verkümmert.»
Samuel Pfeifer ist überzeugt, dass dem Menschen die Liebesfähigkeit ins Herzen gelegt wurde. Er vermeidet, dies dem Begriff «Religion» zuzuordnen. «Ich würde dem eher ‹Grundspiritualität› sagen, die den Menschen eigen ist.» Diese bewirke, dass eine positive Beziehung entstehen könne.
Pfeiffer schreibt den Menschen ein Bewusstsein für etwas Höheres, Transzendentes zu. Auch hier beruft sich der Basler Psychiater auf Erfahrenes. «Die Schöpfung ist so vielfältig und wunderbar, dass sie ein Gefühl hervorruft, da muss noch etwas mehr dahinter stehen.» Punkto Schöpfung ist der Psychiater überzeugt, dass der Mensch die Krone derselben ist, gerade wegen der Nächstenliebe.
«Wenn den Menschen etwas gegenüber anderen Geschöpfen auszeichnet, bei denen das Gesetz des Stärkeren gilt, dann ist es die Fähigkeit zur Nächstenliebe.» Gerade mit der Liebe und diesbezüglichen Beziehungen kursieren in den Medien Meldungen über den Erfolg des Glücks- oder Beziehungshormon Oxytocin. Samuel Pfeifer sind diese Berichte bekannt. «Wenn es um die Beziehung Mutter-Kind geht, dann trifft die populärwissenschaftliche Bezeichnung zu.» Anders ordnet Samuel Pfeifer indes die Wirkung auf Liebe oder Nächstenliebe ein.
«Das Griechische kennt drei Begriffe für Liebe: Eros, Philia und Agape. Oxytocin würde ich dem Eros, der begehrlichen, körperlichen Liebe zuschreiben und eine Wirkung nicht verneinen. Für die Philia, die freundschaftliche Verbundenheit und insbesondere die Agape, die uneigennützige, göttlich inspirierte (Nächsten)-Liebe hingegen hat das Hormon keine Bedeutung.»
28.10.2017/Franz Osswald
Zur Person: Samuel Pfeifer ist Psychiater und war Chefarzt der psychiatrischen Klinik Sonnenhalde., Riehen
Wem die Liebe fehlt, der verkümmert