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«Ich finde es dramatisch, dass das Thema nicht empört»

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30.11.2017
Seit dem 25. November läuft die internationale Solidaritätskampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen». Die Schweizer Kampagnenleiterin Christina Klausener im Interview über Tabus, Resignation und wieso #sprechenwirdarüber wichtig ist.

Frau Klausener, haben Sie schon Gewalt erfahren?
Haben wir Frauen das nicht schon alle? Wenn über Gewalt an Frauen diskutiert wird, denken die meisten an sexuelle Gewalt in Form von Vergewaltigungen. Aber Gewalt beginnt schon vorher: die Hand am Hintern, der frauenverachtende Kommentar oder Witz sowie die Auswirkungen struktureller Gewalt zum Beispiel in Form von Lohnungleichheit – das kennen wir alle.

Die Aktionstage thematisieren jedes Jahr eine andere Form geschlechtsspezifischer Gewalt. Heuer fokussiert die Kampagne die Gewalt an Mädchen und jungen Frauen. Wieso gerade dieses Thema?
Die Formen der Gewalt gegen Frauen häufen sich bei Mädchen und jungen Frauen zwischen 14 und 19 Jahren: Übergriffe im Ausgang, häusliche Gewalt, Gewalt in ersten Liebesbeziehungen, Zwangsverheiratung oder Cybermobbing. Trotz der Aktualität gibt es aber kaum Studien oder Erhebungen zu diesem Thema. Da drängt sich die Frage auf, wieso nicht? In meinen Augen ist dies unter anderem ein Indiz dafür, dass es sich immer noch um ein Tabuthema handelt.

Was ist das Ziel der Kampagne?
Unser Ziel ist es, dieses Tabu zu brechen. Dass in Familien, im Freundeskreis und im Schulunterricht über die Gewalt an jungen Frauen gesprochen wird. Viele Betroffene leiden an Schamgefühlen. Meinen, sie seien für das Erlebte selbst verantwortlich. Dies ist bis heute so, weil diese Meinung oft den gesellschaftlichen Diskurs dominiert. Mit Aussagen wie «Warum warst du auch alleine unterwegs?» oder «Warum hast du dich nicht stärker gewehrt?» wird suggeriert, die Betroffenen müssten selber für ihre Sicherheit sorgen und seien an ihren Gewalterfahrungen schuld. Das ist doch absurd. Die Gewaltausübenden allein müssen die Verantwortung für ihre Taten tragen.

Für die Kampagne wurde der Hashtag #sprechenwirdarüber lanciert. Was wollen Sie mit diesem auslösen?
Mit dem Hashtag soll sich die Gesellschaft ihrer Verantwortung bei Gewalt an Frauen bewusst werden. Gewalt an Frauen ist auch in der Schweiz Alltag, wird aber gerne übersehen. Wir müssen deshalb mehr über die verschiedenen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt sprechen. Und zwar nicht nur Betroffene, sondern wir alle: Frauen und Männer, Familienangehörige, Freunde, Organisationen und auch Parteien ­– wie das beispielsweise die JUSO Schweiz auf ihrem Twitteraccount gemacht hat.

Auch starteten Sie eine Petition gegen die Verharmlosung sexualisierter Gewalt in den Medien.
Wir müssen eine Diskussion darüber führen, wie Medien mit sexualisierter Gewalt umgehen. Ausschlag für die Petition war ein Zeitungsartikel, der einen Missbrauchsfall komplett verharmloste. Der geschilderte Übergriff sei doch nicht mehr als eine Jugendsünde und als eine Folge von zu viel Alkohol anzusehen. Welche Botschaft senden solche Aussagen an Menschen, die Gewalt erfahren haben? Viele von ihnen wagen es nicht, über Erlebtes zu sprechen. Deshalb auch die hohe Dunkelziffer bei Gewaltfällen. Viele Betroffene fühlen sich nicht ernstgenommen.

Die Petition hat noch nicht viele Unterschriften zusammen.
Ja, leider. Ich stelle fest, dass bei konkreten Aktionen die Menschen plötzlich zurückhaltend werden. Das wurde mir auch beim Flashmob in Bern bewusst. Auf die Gruppe von rund 40 Menschen mit verklebten Mündern reagierten einzelne Passantinnen und Passanten nur mit einem kurzen Seitenblick. Ich finde es dramatisch, dass das Thema nicht empört.

Haben Sie sonst Reaktionen auf die Kampagne erhalten?
Zwei betroffene junge Frauen haben sich bei uns gemeldet. Sie fühlten sich durch die Kampagnenplakate ermutigt, über Erlebtes zu sprechen und Unterstützung anzufordern. Das finde ich einen wichtigen Schritt, um die erfahrene Gewalt zu verarbeiten. Betroffene Frauen sollen dazu ermutigt werden, selbst darüber zu entscheiden, wie sie mit ihren Gewalterfahrungen umgehen. Sie sollten nicht einfach in eine Opferrolle gedrängt werden, sondern sie sind Menschen, die Gewalt erfahren haben und ein Recht haben, zu diesem Leid angehört zu werden.

Nicola Mohler, reformiert.info, 30. November 2017

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