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Obdachlos in Zürich

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12.01.2018
Was kommt raus, wenn man acht Obdachlose mit einer Einwegkamera ausstattet und sie bittet, während einer Woche ihren Alltag zu dokumentieren? Die Antwort darauf gibt eine Sonderausstellung an der Photo18 in Zürich Oerlikon.

Ein Kebab, oder was davon übrig bleibt, nachdem er zu drei Vierteln verzehrt wurde, liegt in Aluminiumfolie gewickelt auf einer Fensterbank. Daneben eine Tasse, aus der jemand Kaffee getrunken hatte, bevor er sie einfach stehen liess. Das Spezielle an dieser Aufnahme: Sie ist gänzlich unspektakulär. Sie zeigt etwas, an dem wir normalerweise vorbeigehen würden, ohne überhaupt Notiz davon zu nehmen. Doch das Bild hat – wie alle anderen, die hier zu sehen sind – eine Geschichte.

Und genau um diese geht es den Ausstellungsmachern der Sonderausstellung «Die Sicht der Anderen VI: Obdachlos in Zürich», die am Donnerstagabend im Rahmen der grossen Werkschau Photo18 in Zürich Oerlikon eröffnet wurde. In Zusammenarbeit mit den Sozialwerken Pfarrer Sieber haben acht Obdachlose, die derzeit im Raum Zürich leben, während einer Woche mit Einwegkameras ihren Alltag dokumentiert.

Feuer, Bierdosen und Zeckenbiss
Manche der gänzlich unbearbeiteten Bilder gehen ganz nahe ran und heben ein Detail hervor: Etwa eine Hand, die sich über einem Feuer wärmt. Erst beim näheren Betrachten fällt auf, dass sie, angesichts der Schwielen und dem Dreck unter den Nägeln, wohl kaum einem Bankangestellten gehört. Andere wiederum zeigen Menschen, die unter besonderen Umständen leben und überleben: Da ist der Obdachlose mit der Bierdose in der Hand, der mit einem liebevollen Blick seinen Hund streichelt. Oder der Mann, der in einem Zelt in einem Waldstück beim Uetliberg wohnt. Er zeigt uns auf den Bildern sein Hab und Gut, aber auch den Zeckenbiss, den er eingefangen hat.

Allen Werken gemein ist: Sie ziehen rein. Sie nehmen einen mit in eine verborgene und schonungslose Wirklichkeit der Zürcher Obdachlosenszene. Hinter dem künstlerischen Konzept steht auch Michel Pernet, Co-Produzent der Photo18. «Die Bilder besitzen eine einmalige Authentizität», sagt er im Gespräch. Sie sind ohne Einflussnahme entstanden. Jeder Obdachlose hatte genau 27 Aufnahmen zur Verfügung. «Gerade in Zeiten von Fakenews, wo niemand mehr so recht weiss, was echt ist und was nicht, eine ehrliche Art, zu kommunizieren», sagt er. Abgebildet werden nicht nur Objekte, sondern innere Prozesse – so will man laut Pernet ganz bewusst zum Perspektivenwechsel anregen.

Dem Anonymen ein Gesicht geben
Als «wichtige Plattform» bezeichnet Walter von Arburg, Kommunikationsleiter der  Sozialwerke Pfarrer Sieber, die Sonderausstellung. Obdachlose hätten in unserer Gesellschaft kein Gesicht und keine Perspektive. Mit dem Foto-Projekt haben sie nun eine Chance, Einblicke in ihr Dasein zu geben. Den acht Betroffenen bedeute es extrem viel, von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden – für einmal nicht als Störfaktor. Obwohl sich an der gestrigen Ausstellungseröffnung einige von ihnen unter die zahlreichen Besucherinnen und Besucher mischten: Kommentieren wollte die Bilder niemand. Sie stehen für sich. Und sind gerade deshalb sehenswert.

Sandra Hohnedahl-Tesch, reformiert.info, 12. Januar 2018

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