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«Ich will mit Gott streiten können»

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27.03.2018
Der Psychologe Ahmad Mansour hat sich mit seinen Präventionsprogrammen gegen islamistischen Extremismus in Deutschland einen Namen gemacht. Im Interview sagt er, weshalb die Propaganda der Terroristen beim islamischen Mainstream andocken kann und wie Dschihad und Patriarchat zusammenspielen.

Ist die Radikalisierung von Muslimen ein Männerproblem?
Ein Drittel der Dschihad-Reisenden, die sich dem IS anschliessen, sind Frauen. In der salafistischen Szene liegt der Frauenanteil bei rund vierzig Prozent. Man kann deshalb nicht von einem reinen Männerproblem reden.

Aber das Patriarchat spielt eine entscheidende Rolle.
Das patriarchale System prägt das Weltbild der Islamisten. Die Männer haben die Macht. Aber beim Erhalt der patriarchalen Strukturen machen auch Frauen mit. Würden sie aussteigen, bräche die patriarchale Ordnung zusammen. Aber leider gibt es viele Frauen, die dabei helfen, dass die Männer die Macht behalten.

Inwiefern prägt denn das patriarchale System die Lebenswelt der Jugendlichen, die anfällig sind für die radikale Propaganda?
In vielen Familien, die aus Afghanistan oder Syrien nach Deutschland oder die Schweiz kommen, ist der Vater die bestimmende Figur. Es kann ein grosses Vakuum entstehen, wenn im Einwanderungsland die Autorität des Vaters ins Wanken gerät oder der Vater überhaupt nicht mehr präsent ist. Wenn Kinder plötzlich für den Vater übersetzen müssen zum Beispiel oder unbegleitete Flüchtlinge ihren absenten Vater völlig verklären. In dieses Vakuum stossen die Radikalen. Sie bringen das brüchig gewordene Weltbild wieder in eine starre, patriarchale Ordnung. Der autoritäre, strafende Gott korrespondiert mit dem autoritären, strafenden Vater. Ich habe sogar das Gefühl, die bestrafenden Väter haben den bestrafenden Gott erfunden. Aber auch unter europäischen Jugendlichen kann die fehlende Vaterfigur zu einer persönlichen Krise führen. Sie sind dann ebenso anfällig für die extremistische Propaganda.

Sind die Motive für die Reise in den Dschihad für viele Jugendliche nicht eher im Männlichkeitskult und der Abenteuerlust zu suchen als in der Religion?
Diese Motive spielen eine Rolle, ja. Die Propaganda spielt auch damit, indem sie Bilder transportiert, die auch aus einem Hip-Hop-Video oder einem gewalttätigen Computerspiel stammen könnten. Doch diese Erklärungen allein greifen zu kurz. Es braucht die Ideologie. Und die Radikalen verbreiten eine ausschliessende Ideologie: Hier die Auserwählten, dort die Sünder.

Hat der islamistische Terror also doch mit dem Islam zu tun?
Auf jeden Fall. Alles andere ist eine Ausrede, die negiert, dass die radikalen Islamisten sich auf theologische Positionen beziehen, die dem Mainstream in westeuropäischen Moscheen entsprechen. Den Radikalen gelingt es einfach, die Jugendlichen besser anzusprechen, und sie propagieren die Gewalt.

In dieser Lesart wären alle muslimischen Gemeinden islamistisch und unterschieden sich von den Terrorgruppen nur darin, dass sie schlechtere Jugendarbeit machen und sich von Gewalt distanzieren.
Ich sage nicht, dass der muslimische Mainstream die gleichen Positionen vertritt wie die Islamisten. Aber in mehr oder weniger grossen Dosierungen finden Sie alle Aussagen der Radikalen auch beim Mainstream.

Zum Beispiel?
Ich denke an die fehlende Gleichberechtigung von Mann und Frau oder an das Bild des strafenden Gottes, das zu einer Pädagogik der Angst führt. Unter Muslimen reduziert sich der Diskurs über ihren Glauben zusehends darauf, was erlaubt ist und was nicht. Der Islam ist zu einer Gelehrtenreligion verkümmert, in welcher der Gläubige immer Gelehrte befragen muss, statt zur Mündigkeit erzogen zu werden. Ich will mich aber selbst mit den unterschiedlichen Glaubenstraditionen auseinandersetzen und mit Gott auch streiten können.

Der Gläubige steht direkt vor Gott und soll nicht Dogmen nachbeten: Falsch, wenn ich da an den Reformator Martin Luther denke?
Sie dürfen an Luther denken. Ich vermeide den Begriff der Reformation, denn es geht mir nicht um eine Christianisierung des Islam. Das Verhältnis von Staat, Religion und Gesellschaft, wie es sich in Westeuropa etabliert hat, kann durchaus als Vorbild dienen. Doch der Islam muss seinen eigenen Weg dahin finden.

Bezeichnen Sie sich eigentlich als gläubig?
Ja. Nur schon deshalb, weil ich die Deutungsmacht darüber, was Glaube bedeutet, nicht den Radikalen überlassen will. Zudem ist mir die Beziehung zu Gott wichtig. Ebenso die Lektüre des Korans. Ich erkenne darin vermehrt Ambivalenzen, die mich herausfordern und zum Nachdenken bringen.

Sie haben selbst eine radikale Vergangenheit. Hilft Ihre Biografie, um mit radikalisierten Jugendlichen ins Gespräch zu kommen?
Manchmal schon. Aber auch ein deutscher Lehrer kann das Gleiche erreichen wie ich, wenn er die Jugendlichen und ihre Ängste ernst nimmt.

Das heisst?
Ich gebe ein Beispiel. In einem Gefängnis machte ich einen Workshop mit Jugendlichen. Ein Afghane sagte, in Afghanistan seien Frau und Mann gleichberechtigt. Doch in Deutschland komme zuerst die Frau, dann die Kinder, der Hund und dann irgendwann der Mann. Hier zeigt sich diese grosse Verunsicherung vieler junger Männer, die vor allem aus Syrien und Afghanistan stammen, exemplarisch. Wenn wir diese Ängste nicht verstehen, erreichen wir nichts.

Aber wie ist ein Wertekonsens angesichts dieser ungeheuren Distanz zwischen den Positionen der Mehrheitsgesellschaft und den Ansichten der Radikalen möglich?
Ich weiss nicht, ob die Distanz so gross ist. Ich habe den jungen Afghanen in den letzten Wochen in Vorträgen oft zitiert. Viele deutsche Männer sagten, die Aussage sei vielleicht ein bisschen radikal, aber da sei schon etwas dran. Die Verunsicherung der Männer ist kein Problem, das islamische Communities exklusiv haben.

Und wie kann es nun gelingen, solche Ängste abzubauen?
Sicher nicht mit Frontalunterricht, in dem die Einwanderer mitschreiben müssen, wie es sich mit der Gleichstellung im Westen verhält. Wir müssen auf Augenhöhe diskutieren und Plattformen für den Dialog schaffen.

Ist ein Dialog auf Augenhöhe überhaupt möglich, wenn das Resultat schon klar ist? Die Einwanderer müssen sich ja den westlichen Werten wie Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung und Meinungsfreiheit anpassen.
Ich spreche nicht von Werten, sondern von Menschenrechten. Sie sind universell und tatsächlich nicht verhandelbar. Viele gut gemeinte Integrationsprogramme und Antidiskriminierungskampagnen machten den Fehler, dass sie die Muslime in ihrer Opferrolle bestärkten. Ich verlange von den Jugendlichen, dass sie ihre eigene Haltung reflektieren. Zum Beispiel in Rollenspielen, in denen sie merken, welche Konsequenzen ihr schwarz-weisses Weltbild für andere Menschen hat. Nicht immer gelingt es, sie zum Umdenken zu bringen. Aber ich glaube, es ist der einzige Weg, wirklich zu den Jugendlichen vorzudringen.

Erkennen Sie in der Religion auch positive Ressourcen?
Es kommt auf die Interpretation an. Die Würde des Menschen und die Barmherzigkeit Gottes sind in meiner Lesart des Islam zentral.

Felix Reich, refomiert.info, 27. März 2018

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