Baselland, Basel-Stadt, Luzern, Schaffhausen, Schwyz, Solothurn, Uri, Zug

Auf den Spuren der Anne Frank des Veltlins

min
09.04.2018
Anders als Anne Frank überlebte die 13-jährige Jüdin Regina Zimet den Zweiten Weltkrieg – dank einer Bauernfamilie im italienischen Veltlin.

Die Geschehnisse liegen 75 Jahre zurück, sind heute aktueller denn je. Sie erzählen von praktizierter Nächstenliebe, Mut und Bescheidenheit und sind Stoff für eine Heldengeschichte. Im Zentrum der Geschichte: Eine sechsköpfige Veltliner Bauernfamilie, die ums eigene Überleben kämpft, und eine jüdische Familie auf der Flucht vor den Faschisten und dem sichern Tod.

Der Wolhuser Pfarrer Bernd Steinberg hörte vor einigen Jahren davon, als er seine erste Pfarrstelle in Graubünden antrat. Zu verdanken ist dies Marco Frigg, der die Ereignisse auf Basis der Tagebücher und der Autobiographie von Regina Zimet recherchierte und neu erzählte. Jetzt führen die beiden Männer die Gemeindereise nach Morbegno im Veltlin, unweit der rettenden Schweizer Grenze.

Reise in die Schweiz zu riskant
Fiskel und Rosalie Zimet haben mit ihrer damals 13-jährigen Tochter Regina bereits eine veritable Irrfahrt durch verschiedene Länder hinter sich, als sie am 30. Dezember 1943 völlig erschöpft im Dörfchen San Bello ankommen. Einige Tage vorher haben sie ein schützendes Kloster verlassen, nachdem das von Hitlers Truppen besetzte Norditalien für die Juden auch nicht mehr sicher war. Die Zimets wollen in die Schweiz, den Zug nach Tirano besteigen, sich danach in Graubünden in Sicherheit bringen. Doch das Unterfangen ist riskant.

Der katholische Pfarrer schickt die Familie zu den Dalla Naves. Dort finden die Zimets während 16 Monaten Unterschlupf. Sie wohnen in einem kleinen, niedrigen Raum, der aus dem Fels gehauen ist und der an den Stall mit der Kuh, den Ziegen und den Hühnern grenzt. Geschlafen wird unter einer grossen Decke auf einem Haufen getrockneter Blätter.

«Eine Flucht wäre Selbstmord»
Flöge das Versteck der Zimets auf, müssten auch die Della Naves mit der Erschiessung rechnen. Verzweiflung, Angst vor Verrat, Hunger und Hoffnung sind ständige Begleiter der beiden Familien in dieser Zeit. Als Verrat droht, versichert Giovanni Della Nave, das Familienoberhaupt, den Flüchtlingen seine bedingungslose Unterstützung: «Signor Filippo, eine Flucht aus San Bello wäre zum jetzigen Zeitpunkt Selbstmord! Wir können nur hoffen, dass es Linda nicht in den Sinn kommt, euch zu denunzieren. Um zum Schluss zu kommen: Ich wollte Ihnen, Signor Filippo, mitteilen, dass wir einstimmig beschlossen haben, Sie, Ihre Frau und Ihre Tochter auch weiterhin in unserem Haus zu beherbergen. Und zwar so lange, bis eine Flucht in die Schweiz zu verantworten ist.»

Das ganze Dorf weiss von der Anwesenheit der Juden, doch man hält dicht. Trotzdem kommt es immer wieder zu heiklen Begegnungen.

Den «Schwarzhemden» entkommen
Als der 11-jährige Luigi Della Nave mit Regina Zimet im Wald Kastanien sammelt, laufen sie direkt SS-Männern und faschistischen Milizionären, den so genannten «Schwarzhemden», in die Arme. «Du musst jetzt ruhig bleiben», sagt sich Luigi. Der Bauernbub behält die Nerven und kann die Situation entschärfen. Hätten die Schergen bemerkt, dass Regina gar nicht italienisch spricht, hätte dies das Ende der beiden Familien bedeutet.

Die Bergbevölkerung steht im Ruf, die Widerstandskämpfer gegen das faschistische Italien zu unterstützen. Einmal kommen deutsche Truppen auf der Suche nach Partisanen über die einzige Brücke, die es gibt, nach San Bello. Geistesgegenwärtig verstecken sich die Zimets zusammen mit einem Widerstandskämpfer in einem Gewölbe unter der Dorfkirche – und werden nicht entdeckt.

Regina Zimets Tagebuch
In den fast eineinhalb Jahren, in denen sich die Zimets verstecken, führt Regina ein Tagebuch, dem sie ihre Nöte und Sorgen anvertraut. Sie schildert Kälte und Erschöpfung auf der Flucht, erzählt von der Überlistung italienischer «Schwarzhemden» und wie es ihr immer wieder gelingt, Lebensmittel zu beschaffen.

Die Zimets können nach Kriegsende doch noch ihre Reise antreten – nicht nach Graubünden, sondern nach Palästina. Regina Zimet aber vergisst nie, wem sie ihr Überleben verdankt. Regelmässig, bis kurz vor ihrem Tod, kommt sie nach San Bello zurück und besucht dort ihre Retter.

Ein Buch macht Furore
Vor 15 Jahren verbringt der Bündner Lehrer Marco Frigg, italienisch-schweizerischer Doppelbürger, seine Ferien im Haus seiner Mutter im Valle di Morbegno. Dort stösst er per Zufall auf die ins Italienische übersetzte Autobiografie von Regina Zimet, die diese 1987 in Israel auf Hebräisch veröffentlichte. Marco Frigg beginnt zu recherchieren und findet im Dorf die Kinder der Bauernfamilie Della Nave, die damals die Familie Zimet unter ihren Schutz nahm. Frigg übersetzt und ergänzt die Autobiographie von Regina Zimet mit eigenen Recherchen und mündlichen Überlieferungen der Familie Della Nave. Mit «Regina Zimet – Die Anne Frank des Veltlins» landet der Autor einen Überraschungserfolg.

Emigration nach Israel und Ehrung der Della Naves
Nach dem Krieg wandert Regina Zimet nach Israel aus, wo sie im Jahr 1992 im Alter von 62 Jahren in der Nähe von Tel Aviv stirbt. Im Jahr 2002 werden ihre Retter Giovanni und Mariangela Della Nave postum mit dem Titel «Gerechte unter den Völkern» dafür geehrt, dass sie selbstlos gehandelt und unter dem Einsatz ihres eigenen Lebens die Familie Zimet gerettet haben. Ihre Namen sind heute auf der «Mauer der Gerechten» in der nationalen Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem eingraviert. Den Kindern der Della Naves, Giovanni jr., Angela, Luigi und Lodovico, überreichte der Staat Israel im Jahr 2003 im Saal des vollbesetzten Rathauses von Morbegno die Medaille «Gerechte unter den Völkern». Zusammen mit einem Dokument mit einem Zitat aus dem Talmud: «Wer auch immer ein einziges Leben rettet, der ist, als ob er die ganze Welt gerettet hätte.»

Philippe Welti, kirchenbote-online, 9. April 2018

Marco Frigg, «Regina Zimet – Die Anne Frank des Veltlins», Verlag Desertina, Chur, weitere Informationen: www.annefrank-veltlin.ch

Unsere Empfehlungen

Mitglied sein oder nicht

Mitglied sein oder nicht

Die digitale Grossgruppen-konferenz der Reformierten Kirche des Kantons Luzern hat sich innert kurzer Zeit zu einem nationalen Event etabliert. Über 200 Teilnehmende aus allen Regionen und Bereichen nahmen teil und diskutierten über das Mitgliedsein.
69-Jährige im neuen Look

69-Jährige im neuen Look

Das «Wort zum Sonntag» gehört zu den ältesten Sendungen von SRF. Jetzt wurde ihr Auftritt optisch überarbeitet. Über die alte Sendung in neuem Glanz.