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«Wir wollen eine Kultur der Null-Toleranz»

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24.09.2018
Missbrauchsfälle gibt es auch in der reformierten Kirche. Zum Glück immer seltener, denn die Kantonalkirchen haben inzwischen Massnahmen getroffen.

Wer Fälle des sexuellen Missbrauchs in der reformierten Kirche sucht, muss länger googeln, aber er findet sie: Etwa den Pastor, der in der Jugendfreizeit eine 14-Jährige küsste und bedrängte. Oder den Pfarrer in Ostdeutschland, der mit der Jugendgruppe an den FKK-Strand fuhr und die Sauna besuchte. Die Eltern nahmen am freizügigen Programm des charismatischen Pfarrers keinen Anstoss. Oder den Aargauer Seelsorger, der mit einer Frau schlief, die er betreute.

Thomas Schaufelberger, Leiter Aus- und Weiterbildung der Pfarrschaft in der Schweiz, gibt zu, dass die reformierte Kirche nicht vor Übergriffen gefeit sei. Aus der jüngsten Zeit kenne er aber kaum gravierende Fälle. Die Missbräuche in der katholischen Kirche will er nicht kommentieren. Er vermutet aber, dass das einzigartige geistliche Amt die Priester dazu verleitet, sich unantastbar zu fühlen. 

Bei den Protestanten sehe dies anders aus: «Heute arbeiten die Seelsorgerinnen und Seelsorger meist im Team. Sie müssen der Kirchenpflege Rechenschaft ablegen und sich der Urnenwahl stellen. Missbräuche fallen in diesem Umfeld rascher auf», sagt Schaufelberger.

Seit den 1990er-Jahren ist der Machtmissbrauch Thema in der Pfarrausbildung und der Kirche. 2003 erschien die Broschüre «hinschauen, wahrnehmen, handeln». Sie gibt unter anderem Empfehlungen zum Vorgehen, wenn ein Verdacht besteht. In den folgenden Jahren entwickelten die Gender-Expertinnen Sabine Scheuter, -Sabine Brändlin und Judith Borter Konzepte gegen Grenzüberschreitungen. Sie lancierten Massnahmen wie Präventions-Seminare und arbeiten mit Beratungsstellen zusammen. Die Betroffenen sollen sich rasch und unbürokratisch Hilfe holen können.

Die Empfehlungen beinhalten auch Meldepflichten. – So beispielsweise, wenn in einem Konflager Jugendliche andere sexuell belästigen oder gewalttätig werden. «Da dürfen die Lagerleitenden nicht wegschauen», betont Sabine Scheuter, Gender-Beauftragte der Zürcher Kirche. 

Nähe und Distanz

Als etwa ein Pfarrer eine Jugendliche konfirmierte und ihr segnend die Hand auf den Kopf legte, hiess es sofort, er habe die junge Frau «betöpelt». Die Frage der Nähe und Distanz sei im Pfarramt ein Dauerbrenner, bestätigt Schaufelberger. Denn die Botschaft der Nächstenliebe berühre nicht nur die Seele, sondern den ganzen Menschen. Wenn Menschen mit Menschen zu tun haben, entsteht Reibungswärme. Auch im Pfarramt. Für Schaufelberger gehört es zur Professionalität der Seelsorgerinnen und Seelsorger, dass sie sich ihrer Rolle und Emotionen bewusst sind. Das sei nicht einfach, denn die Grenzen zwischen persönlicher und pastoraler Zuneigung sind fliessend. Was kann ein Pfarrer tun, wenn sich eine Jugendliche im Lager spasseshalber auf seinen Schoss setzt? Wenn ihn eine Frau nach dem Gottesdienst herzlich umarmt oder wenn er und die Kirchenpflegerin sich verlieben? «Wo sich Menschen begegnen, entstehen Gefühle», sagt Schaufelberger. Wichtig sei, dass man sich der Abhängigkeiten bewusst ist und die richtige Distanz findet.

Werden Pfarrerinnen und Pfarrer nicht auch Opfer von Übergriffen? Sicher, erklärt Schaufelberger, gerade jüngere Seelsorgerinnen. Die Palette reiche von anzüglichen Bemerkungen bis zum Begrabschen. Die Seelsorgerinnen und Seelsorger müssten Strategien entwickeln, um sich zu wehren. 

In der Realität keine einfache Sache, vor allem, wenn die Kirchenleitung nicht hinter den Angestellten steht. Als eine Pfarrerin von einem Gemeindemitglied zum Nachtessen eingeladen wurde und ablehnte, meinte der Präsident der Kirchenpflege, sie könne doch dem älteren Herrn die Freude machen.

Cevi hat Massnahmen ergriffen

Sexuelle Übergriffe kommen auch in den Jugendverbänden vor. Im letzten Jahr stand ein ehemaliger Cevi-Leiter vor dem Bezirksgericht Dietikon, der vor Jahren mindestens neun Knaben regelmässig missbraucht hatte. «Sexuelle Ausbeutung fordert jede Jugendarbeit heraus, in der Schule, der Kirche, dem Sportverein oder der Clique», sagt Felix Furrer, Medienverantwortlicher bei Cevi Schweiz. 1989 gründete Cevi mit anderen Institutionen die Fachstelle Mira für sexuelle Prävention.

In Kursen werden die Cevi-Leiter und -Leiterinnen geschult. Mit Erfolg: Inzwischen geniesse die Prävention in der Cevi einen hohen Stellenwert, erklärt Felix Furrer. Er ist überzeugt, dass sich dieser Aufwand lohnt.

Verstärkter Datenaustausch

Im nächsten Jahr verschärfen die Kantonalkirchen die Massnahmen. Bis anhin konnten Kirchgemeinden bei der Besetzung einer Stelle den Auszug aus dem Strafregister einsehen. Die Behörden erfuhren so, ob jemand von einem Gericht verurteilt wurde.

Neu dürfen Landeskirchen bei anderen nachfragen, ob es Vorfälle gegeben hat. Die Kirchen wollen die Prävention auf die Freiwilligen ausweiten, besonders in der Kinder- und Jugendarbeit. «Wir wollen eine Kultur der Null-Toleranz», sagt Schaufelberger. «Es ist ein zentraler Teil der Kirche und des Christentums, dass die Würde des Menschen geschützt wird.»

Tilmann Zuber, 24.9.2018, Kirchenbote

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