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«Wir wollen Sinn im Chaos sehen»

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16.10.2018
Früher glaubten viele Menschen an eine göttliche Instanz, die im Hintergrund schaltet und waltet, heute hängen manche stattdessen Verschwörungstheorien an, sagt der Kulturwissenschaftler Michael Butter.

Die Mondlandung hat nie stattgefunden. Hillary Clinton ist längst tot. Der Anschlag auf das World Trade Center ist ein Machwerk der CIA. Und Angela Merkel? Sie ist in Wahrheit ein Reptiloid. Herr Butter, Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur. Oder täuscht der Eindruck?
Verschwörungstheorien haben eine lange Tradition, es gab sie schon im Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Aber heute sind sie durch das Internet und die Sozialen Medien viel sichtbarer geworden. Noch vor ein paar Jahrzehnten spielte sich der Glaube an Verschwörungstheorien in verborgenen, kleinen Subkulturen ab. Nun werden diese Subkulturen öffentlich und deren Anhänger haben nicht weiter das Gefühl, einer Minderheit anzugehören. Zugleich erleben wir eine Fragmentierung der Gesellschaft.

Wie meinen Sie das?
Es gibt in unseren Gesellschaften mehr und mehr Gruppen, die einander nicht mehr verstehen, weil sie an ganz unterschiedliche Dinge glauben. Und die davon überzeugt sind, dass sie allein im Besitz der Wahrheit sind und alle anderen falsch liegen. Verschwörungstheorien sind ein Symptom dieser Art der Fragmentierung. Sie trägt zu einer Polarisierung der Gesellschaft bei, die gefährlich werden kann. Wenn sich Gesellschaften nicht mehr darauf verständigen können, was wahr ist, wie können sie dann die drängenden Probleme unserer Zeit lösen?

Woran erkennt man Verschwörungstheorien?
Verschwörungstheorien weisen typischerweise drei Merkmale auf. Erstens geschieht nichts durch Zufall. Alles hat seinen Grund, ist bewusst eingefädelt, folgt einer strengen Logik. Denn am Ende muss alles aufgehen und für alles muss es eine einfache Erklärung geben. Dahinter steckt die Sicht von einer Welt, in der es keine Widersprüche oder ungewollte Nebeneffekte geben darf. Zweitens ist nichts, wie es ist. Erst wenn man unter die Oberfläche schaut, wird man die wahren Verhältnisse erkennen. Und erst dann wird man – und dies ist das dritte Merkmal von Verschwörungstheorien – begreifen, dass alles mit allem zusammenhängt: die Einführung des Euro, der immer lauter werdende Feminismus, die Flüchtlingskrise oder was auch immer, alles ist Teil eines perfiden Gesamtplans.

Wer Verschwörungstheorien anhängt, scheint also vom Wunsch beseelt, der angeblich chaotischen Welt einen ultimativen Sinn zu verleihen. Früher hatten Religionen diesen Anspruch. Sind Verschwörungstheorien zu einem Religionsersatz geworden?
Da ist sicher etwas dran. Gerade im 18. Jahrhundert erfüllten Verschwörungstheorien diese Funktion. Das war nicht von ungefähr zu einer Zeit, da die Religionen unter Druck gerieten. Davor glaubten die Menschen an eine göttliche Instanz, die alle Fäden in der Hand hält. Mit der Aufklärung wurde diese Weltsicht zunehmend hinterfragt. Doch waren die Menschen noch nicht bereit zu akzeptieren, dass komplexe Gesellschaften Dinge hervorbringen, die niemand so geplant hat. Irgendjemand musste all das doch lenken, und so traten an die Stelle Gottes die Verschwörer. Das heisst aber nicht, dass Religion komplett durch Verschwörungstheorien ersetzt wird. Oder dass religiöse Menschen nicht an Verschwörungstheorien glauben oder Verschwörungstheoretiker nicht religiös sein können. Es gibt schliesslich auch seit der Frühen Neuzeit immer wieder metaphysische Verschwörungstheorien, in denen die weltlichen Bösewichte letztendlich mit dem Teufel oder dem Antichristen im Bunde sind. In solchen Fällen gehen Verschwörungsglaube und Religion nahtlos ineinander über.

Wo sehen Sie konkret Gemeinsamkeiten zwischen Verschwörungstheorien und Religionen?
Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Nehmen wir einmal die christlichen Religionen, vor allem in ihren traditionelleren Ausprägungen, also mit dem Glauben an einen göttlichen Heilsplan. Dann machen, wie schon angedeutet, sowohl Verschwörungstheorien als auch Religion ein starkes Sinnangebot. Beide schliessen Chaos und Zufall aus, indem sie suggerieren, dass es jemand gibt, der im Hintergrund schaltet und waltet und alles geplant hat: Gott oder die Verschwörer. Damit befriedigen sie ein zutiefst menschliches Bedürfnis nach Kausalität. Unser Gehirn ist darauf gepolt, sinnhafte Zusammenhänge zu sehen. Und natürlich unterteilen Verschwörungstheorien wie auch viele Religionen die Welt in Gut und Böse oder in Täter und Opfer, hier wie dort wird ein strikt dualistisches Weltbild vertreten. Aber natürlich gibt es auch Unterschiede zwischen Verschwörungstheorien und Religionen.

Zum Beispiel?
Religionen gehen davon aus, dass es eine den Menschen wohlgesonnene Instanz ist, die im Hintergrund die Strippen zieht. Bei Verschwörungstheorien ist das anders. Da sind es die Bösewichte, denen man das Handwerk legen muss. Auch erkennen viele Religionen zumindest heutzutage an, dass sie sich nicht beweisen lassen, es muss vielmehr geglaubt werden. Dagegen denken Verschwörungstheoretiker – oder sie behaupten es zumindest –, dass sich ihre Ideen wissenschaftlich belegen lassen.

Menschen, die Verschwörungstheorien in die Welt setzen, betrachten sich oft als jene, welche die Wahrheit erkannt haben, und die nun für die anderen, Unwissenden, eine Art Führer sein möchten. Sind Verschwörungstheoretiker die neuen Gurus?
Das ist nicht bei allen Verschwörungstheoretikern so, aber bei einigen durchaus. Der Engländer David Icke zum Beispiel, der die Verschwörungstheorie von den Reptiloiden erfunden hat, ist so ein Guru. Aber auch der Schweizer Daniele Ganser hat eine Anhängerschaft, die ihn glühend verehrt und gegen vermeintliche Angriffe verteidigt.

Zurück zur Religion: Sehen Sie Verbindungen zwischen gewissen Verschwörungstheorien und religiösem Fanatismus?
Es sieht so aus, als ob es da in der Tat einen engen Zusammenhang gibt. Wir wissen, dass in islamistischen Kreisen Verschwörungstheorien weit verbreitet sind. Gleiches gilt aber auch für radikale Christen wie die Evangelikalen in den USA. Hingegen wissen wir noch nicht, wie religiöser Fanatismus und Verschwörungstheorien genau zusammenkommen. Neigen Fanatiker zu Verschwörungstheorien oder Verschwörungstheoretiker zu religiösem Fanatismus?

Der Glaube, in einem religiösen Sinne, ist etwas Privates. Wieso darf es nicht auch der Verschwörungsglaube sein? Wieso muss man Verschwörungstheorien bekämpfen?
Auch hier muss man differenzieren. Viele Verschwörungstheorien sind absolut harmlos. Das ist nicht gefährlich, und dagegen sollte niemand etwas tun. Aber es gibt eben auch Theorien, die gefährlich sind, weil sie rassistisch oder anti-semitisch sind. Oder Populisten in die Hände spielen. Oder gefährlich für Leib und Leben sind, weil ihre Anhänger gegen Impfungen sind oder leugnen, dass es zum Beispiel das AIDS-Virus gibt. Private Überzeugungen sind halt immer auch politisch, weil sie Auswirkungen haben, die nicht nur einen selbst betreffen.

Klaus Petrus, kirchenbote-online, 16. Oktober 2018

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