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«Hat er nicht gewusst, was er uns antut?»

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25.03.2019
Jörg Weisshaupt war Sekundarlehrer, Jugendbeauftragter der Reformierten Kirche Zürich, 10 Jahre Notfallseelsorger in der Stadt Zürich und Jugendbeauftragter der Reformierten Kirche Zürich und beteiligt an den Selbsthilfegruppen nebelmeer.net und verein-refugium.ch. Er kennt die bohrende Frage nach dem Warum, die sich den Hinterbliebenen stellt. Er weiss, was die Familien nach einem Suizid durchleben und wie sie ins Leben zurückfinden.

Jörg Weisshaupt, die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Welt, trotzdem steht es im Länderindex beim Suizid im vorderen Feld. Was läuft falsch?

Jörg Weisshaupt: In der Schweiz haben die wenigsten existenzielle Probleme. Doch viele sehen in ihrem Leben keinen Sinn mehr. Zudem leiden rund 80 Prozent der Menschen, die sich das Leben nehmen, an einer psychischen Krankheit.

Was müsste geschehen, dass die Menschen ihr Leben als sinnvoll empfinden?

Schwierige Frage. Mir fällt die Antwort einer jungen Frau ein, die ihrem Vater erklärte: «Ihr habt Drogen genommen, um Spass zu haben, wir nehmen Amphetamine, um in der Gesellschaft bestehen zu können. Wir sind die Pflicht erfüllende Generation.» 

Steht die heutige Jugend unter Druck?

Ja. Wir Erwachsenen haben das Gefühl, die Jugendlichen könnten es nicht besser haben. Sie verfügen über alle Möglichkeiten, können jede Ausbildung absolvieren. Viele Jugendliche stehen jedoch unter enormem Druck. Sie glauben, dass sie die Erwartungen der Eltern erfüllen müssen. Die Hinterbliebenen, die ich begleite, erzählen mir oftmals, dass ihre Angehörigen hohe Ansprüche an sich stellten und unter ihrem Perfektionismus litten.

Die Botschaft lautet also, don’t worry, be happy?

Ja. Man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass in Jamaika alles leichtfällt. Dort hört man diese Lebensweisheit unablässig, es herrscht jedoch grosse soziale Not. Ich denke, es würde uns im Leben helfen, wenn wir achtsamer wären.

Ist es für die Angehörigen schwieriger, wenn sie den Sohn oder die Tochter durch Suizid als durch eine Krankheit oder einen Unfall verlieren?

Letzten November ist mein Sohn an einem Hirntumor gestorben. Wir konnten diesen Weg gemeinsam gehen und hatten noch die Zeit, um zu trauern, wütend zu sein und Abschied zu nehmen. All dies ist bei einem -Suizid nicht möglich. Zurück bleibt die Frage der Schuld. Warum hat er sich nicht geöffnet und nichts von seiner Not erzählt? Warum habe ich nichts bemerkt? Ich hätte es doch spüren müssen, als er sich am Morgen so herzlich von mir verabschiedet hat.

Lässt sich die Frage nach dem Warum beantworten?

Nein. Vielleicht gibt es Ansätze einer Antwort, gerade wenn die Angehörigen an Depressionen gelitten haben, in einer Klinik waren oder psychiatrisch betreut wurden. In der letzten Phase verschliessen sich die Suizidalen und man erreicht sie nicht mehr. Viele Hinterbliebenen kommen zum Schluss, sich die Frage nach dem Warum nicht mehr zu stellen.

Macht es den Abschied leichter, wenn man einen Abschiedsbrief findet?

Das mag eine kleine Entlastung sein. Man hat die Gewissheit, dass der Verstorbene sich das Leben nehmen wollte und nicht aus Kurzschluss handelte. Eine junge Frau fragte mich: Hat mein Vater nicht gewusst, was er uns antut? Wie kann er in seinem Abschiedsbrief schreiben, dass er uns alle lieb hat, und uns diesen Schmerz zufügen?

Was antworteten Sie?

In der Phase vor der Tat ist das emotionale Empfinden verschwunden. Man befindet sich in einem schwarzen Loch. 

Gibt es Anzeichen, die auf einen Suizid hindeuten?

Im Nachhinein kann man vielleicht einzelne Signale deuten. Doch suizidale Menschen täuschen oft ihre Liebsten. Sie wollen sie nicht belasten und nicht an ihrer Tat gehindert werden. «Ich wollte euch nicht mehr zur Last fallen», schreiben sie manchmal im Abschiedsbrief. In den letzten Tagen ihres Lebens scheinen sie gefestigt und ruhig. Man glaubt, dass sie aus dem Tal der Depression herausgefunden und neue Energie haben. Doch das täuscht. Ihr Tunnelblick und ihre ganze Energie fokussieren auf ihr Vorhaben, ohne dass es Aussenstehende merken. Selbst für Profis ist es schwierig festzustellen, wir stark jemand gefährdet ist.

Soll man es ansprechen, wenn man das Gefühl hat, dass sich jemand umbringen will?

Im Schulungsmaterial für die SBB haben wir drei Stichworte festgehalten: «Hinschauen, ansprechen und handeln.» Beispielsweise indem man sagt, ich sehe, dass es dir nicht gut geht und mache mir Sorgen. Hast du im Sinn, dir etwas anzutun? Dieses Ansprechen ist enorm wichtig. Es wirkt wie ein Ventil, das sich öffnet und Druck wegnimmt. Gerade in der SMS- und Online-Seelsorge haben wir erlebt, dass man Druck wegnimmt, wenn man das Vorhaben anspricht und die Leute ernst nimmt. Meine Frau leitete die «Dargebotene Hand» in Bern. Sie hat in der Nacht die Betroffenen stundenlang begleitet, bis sie sich wieder gefangen haben.

Dann lässt sich die Tat verhindern, indem man die Betroffenen begleitet.

Ja. Wir sollten uns jedoch bewusst sein, dass wir nicht jeden Suizid verhindern können. Wenn jemand den ersten Versuch überlebt, dann ist die Schwelle sehr tief, es erneut zu versuchen. Deshalb ist es wichtig, dass man es anspricht. Man sollte nicht warten, sondern den Kontakt pflegen, sich melden und mit den Betroffenen etwas unternehmen, etwa einen Spaziergang in der Natur. Das gilt übrigens nicht nur für die Suizidalen, sondern auch für die Hinterbliebenen.

Viele haben das Gefühl, sie dürfen die Angehörigen in diesem Moment nicht stören.

Leider, und wechseln etwa das Trottoir, um ihnen auszuweichen. Die Hinterbliebenen haben dann das Gefühl, man habe etwas gegen sie oder gebe ihnen die Schuld. Oft sind es ja unsere Angst und unser Unvermögen, die uns daran hindern, auf sie zuzugehen. Wir wissen nicht, wie wir die Situation ansprechen können, und scheuen zurück.

Sie sprechen die Schuld an. Ist man schuldig, wenn andere sich das Leben nehmen?

Natürlich nicht. Es ist wichtig, dass man dies klarmacht: Du trägst die Verantwortung für die letzte Tat. Ich kann dich nicht davon abhalten. Es wird dir irgendwann einmal gelingen. Doch man muss die Frage der Schuld auch ernst nehmen, etwa wenn ein Paar im Streit auseinandergeht und der Mann sich das Leben nimmt. Die Frau macht sich Vorwürfe und fragt sich: Warum haben wir gestritten? Hätte ich nicht meinen Mund halten können? Es ist wichtig, dass man die Angehörigen in der Frage der Schuld begleitet und unterscheidet zwischen quälenden Schuldfantasien und einer realen Schuld. Auch der Staat nimmt die Frage der Schuld mit einem Verfahren ernst.

Was bringt es, wenn ich eine Selbsthilfegruppe aufsuche?

Verständnis. Die Teilnehmenden haben ähnliche Geschichten erlebt, kennen das Gefühlschaos, die Trauer, Ratlosigkeit und Wut, nehmen einander ernst und gehen achtsam und würdevoll miteinander um.

Hilft es, das Geschehen zu verdrängen?

Ich glaube nicht. Anfänglich sind die Hinterbliebenen schockiert und traumatisiert. Alles liegt in einem Nebel, wie ein Albtraum. Die Leute finden sich nicht mehr zurecht. Auf den Schock folgen Trauer, Schmerz, Wut und viele Fragen. Doch man kann nicht auf Dauer in seiner Trauer verharren. Man muss loslassen, ohne den geliebten Menschen zu vergessen. Man muss wieder lernen, in der Gegenwart zu leben und sich einen Alltag schaffen, in dem man die Trauer auch einmal vergessen und wieder vorwärtsschauen kann. Der Verstorbene bleibt Teil des eigenen Lebens. Manchmal fragen mich die Betroffenen, ob sie eine neue Partnerschaft eingehen und sich verlieben dürfen. Ich sage dann: «Dein Vater oder deine Mutter wollte nicht, dass du eine solche Leidenszeit durchmachst und dich über Jahre nicht entfalten kannst.»

Wie hilfreich ist der Glaube in dieser schwierigen Situation?

Ein gesunder Glaube hilft immer. Das Bild des liebenden Gottes ist tröstlich. Leider gibt es Menschen, die moralisieren und verurteilen. Vor kurzem erklärte mir ein junger Mann, dessen Vater sich umgebracht hatte, dass man den Priester nur mit Geld zur Abdankung bewegen konnte. Die katholische Kirche hat sich in den Siebzigerjahren von der Todsünde des Selbstmords verabschiedet. Trotzdem wird er mancherorts bis heute verteufelt.

Schreckt die Ächtung der Selbsttötung als Sünde nicht auch ab?

Vielleicht ist dies ein Grund, dass sich weniger Katholiken als Reformierte das Leben nehmen. Aber es geht nicht an, dass man die Menschen, die sich das Leben nehmen, verteufelt. In der ganzen Bibel findet sich keine Stelle, die den Suizid und die suizidale Person verurteilt.

Warum ist der Suizid heute ein Tabu?

Selbsttötung ist heute kein Tabu mehr. Im Gegenteil, der assistierte Tod hat heute eine grosse Lobby. Die Medien berichten ständig über die Sterbehilfeorganisationen. Die Anzahl der «normalen» Selbsttötungen nimmt in der Schweiz ab. Vor fünf Jahren lag sie bei jährlich 1300 Fällen. Im letzten Jahr bei 1000. Auf der anderen Seite schieden 800 Menschen mit Sterbehilfe aus dem Leben.

Der Volksmund sagt, die Zeit heilt alle Wunden. Gilt dies auch in diesem Fall?

Wenn das Sprichwort dazu führt, dass man in seiner Trauer verharrt, dann stimmt es nicht. Man kann nicht einfach die Zeit arbeiten lassen. Wenn die Hinterbliebenen jedoch den Prozess des Trauerns gestalten, finden sie rascher ins Lebens zurück, können eine Perspektive entwickeln und ihre Arbeit wieder aufnehmen. Die Zeit lehrt, mit der Verwundung zu leben.

Interview Tilmann Zuber, Kirchenbote, 25.3.2019

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