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Das Schlimmste ist die Ungewissheit

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25.03.2019
Nach gut 40 Ehejahren trennte ich mich von meinem Mann, wir wurden jedoch danach echte Freunde. Mein Partner war ein Abenteurer, brachte die zwei Kinder und mich mehrmals in Lebensgefahr. Ohne mein Wissen, trotz Augenoperationen, unternahm er weiter riskante Klettertouren. So stürzte er ab, wurde elf Tage nicht gefunden. Fürchterlich war und bleibt die Ungewissheit über seinen Tod.

Höhenrausch als Lebenselixier

Mein Mann stammte aus schwierigen Verhältnissen, war der älteste von drei Söhnen, gewohnt, die jüngeren zu befehligen. Ihm schwebte eine intakte Familie vor, mit starkem Vater als Oberhaupt. Seine Passionen waren Segel- und Gleitschirmfliegen, ex-treme Bergwanderungen mit Klettern, Skitouren in unwegsamem Gelände. Mehrmals mussten wir ihn nach Abstürzen auf Intensivstationen wiederfinden. An Wochen-enden wurden strenge bis gefährliche Bergwanderungen verordnet. Die Kinder rebellierten kaum, hatten jedoch Ängste. Unlängst schilderte der Sohn, wie ihn Todesangst überfiel, als er als Sechsjähriger, von einem Abgrund geborgen, am Seil der Rega in der Luft hing. Als junge Erwachsene distanzierten sich die Kinder vom Vater, der Sohn weniger, die Tochter ganz. Das schmerzte meinen Mann zutiefst.

Damoklesschwert: Ungewissheit

Nach der Trennung trafen wir uns regelmässig zu kulturellen Unternehmungen, hatten ein gutes Einvernehmen wie nie zuvor. Ich wusste  aber rein nichts über seine Kletterpartien im Alleingang. Eine Freundin teilte mir später mit, er hätte die Badile Kante als Ziel gehabt und dafür geübt. Unheilvolle Vermutungen liessen mich, nachdem ich ihn tagelang nicht erreichte, die Polizei benachrichtigen. Die sofort gestarteten Suchen in Medien und per Flug brachten kein Ergebnis, ausser nach Tagen die Meldung eines sanktgallischen Postauto-Chauffeurs, der ihn gesichtet hatte. Ich hätte ihn eher im schwyzerischen Berggebiet vermutet. Jedoch fanden wir in der Wohnung Bahnbillette Richtung Ostschweiz, letztlich richtungweisend, war ja der Alpstein stets sein Lieblingsübungsgebiet seit der Jugendzeit.

Ein Bergführer fand schliesslich meinen Ex-mann zerschmettert am Fusse einer Felswand; der starke Verwesungsgeruch hatte die Leiche verraten.Die nagende Ungewissheit, er könnte irgendwo verletzt liegen und Hilfe benötigen, war somit behoben, in gewisser Weise war dies Erlösung. Mein Sohn musste zur Identifizierung der Leiche nach St. Gallen. Meine Tochter brachte mir den stark verrotteten Rucksack samt Inhalt. Das war total schmerzlich. Erst nach der Bestattung im engsten Familienkreis kamen bei der Wohnungsräumung erste Zweifel über seinen Tod auf: Wir fanden ein aufgeschlagenes Buch des Philosophen Jacques Derrida und auf dessen Seiten über das Sterben viele von meinem Mann vorgenommene Markierungen. Das war  alarmierend, wusste ich doch, dass er sich in seinem derzeitigen Leben in etlichen Bereichen unglücklich fühlte. 

Quälende Zweifel steigerten sich vermehrt: War er nicht durch einen Fehltritt in die Tiefe gestürzt, hatte er womöglich sein offenbar enttäuschendes Dasein beenden wollen? Die Frage bedrängte mich immer stärker, auch nachts. Die Kinder versuchten mich zu beruhigen: Er hätte einen Abschiedsbrief hinterlassen. Aber ich stellte fest, dass auch sie immer wieder mal am Unfall zweifelten. Nur noch ganz selten reden wir heute darüber, aber die Ungewissheit drückt immer wieder durch.

Aufgezeichnet Tilmann Zuber, Kirchenbote, 25.3.2019

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