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«Der Wohlstand muss bei allen ankommen»

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07.05.2019
An der Jubiläumsfeier der Offenen Kirche Elisabethen in Basel sprach alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey über die Kirche der Zukunft, die Gefahren der Globalisierung und die Gerechtigkeit als Grundstein der Demokratie.

Frau Calmy-Rey, was führt Sie in die Offene Kirche Elisabethen?
Ich habe in einer Basler Lokalzeitung gelesen, dass die Offene Kirche Elisabethen die Kirche ist «für alle, die nicht mehr zur Kirche gehen». Kirche sein, ohne konfessionellen Zwang, ohne Bekenntniszwang, offen für alle, ohne Ansehen der Biografie, des Glaubens, des Geschlechts, offen für alle, die einen Gott suchen, und für alle, die noch gar nicht wissen, ob sie das wollen, aber sich einfach mal auf den Weg machen: Das scheint mir ein Modell für die Zukunft zu sein. Unter den Chorfenstern dieser Kirche, die das Leben Jesu darstellen, finden viele Menschen Heimat und Schutz. In solch einer Kirche fühle auch ich mich sehr wohl. Als man mich um die Festrede heute Abend bat, habe ich darum gerne zugesagt.

Sehen Sie Ihre Erwartungen erfüllt?
Ja, hier wird das Engagement für Menschen, die am Rande stehen, grossgeschrieben. Menschen, die sonst keine Fürsprecher haben, erhalten hier mit Lebensmittelpaketen Nahrung für den Körper und mit Handauflegen, Seelsorge und Gebet Nahrung für die Seele. Auch das spricht mich sehr an.

Sind Sie noch immer Vollblutpolitikerin. Was beschäftigt Sie derzeit?
Wir erleben heute tiefgreifende Veränderungen auf globaler Ebene. Faktoren oder Ereignisse, die ausserhalb unserer Einflusssphäre gründen, beeinflussen immer häufiger unser tägliches Leben entscheidend. Denken Sie an Klimaszenarien, diese reden eine unmissverständliche Sprache. Denken Sie an die Finanzwelt: In der Eurozone und in den USA hat die Schuldenkrise gezeigt, wie verletzbar die Wirtschaftsstrukturen der Industrieländer sind.

Und die Schweiz?
Auch in unserem Land geht die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander: Eine neue Wirtschaft ersetzt die alte und schafft Gewinner und Verlierer. Wir müssen alle versuchen, das Phänomen der Globalisierung der Wirtschaft und der Gesellschaft zu bremsen oder sogar ganz zu stoppen.

Was steckt hinter dieser Entwicklung?
Eine moralische Krise, eine Gleichgültigkeit vieler Menschen gegenüber der Politik. Die Leute sind enttäuscht vom Staat und von der Demokratie. Auch ich bin besorgt über die Entwicklung unserer Aussenpolitik.

Wieso?
Die Schweiz hat sich als praktisch einziges europäisches Land geweigert, eine Erklärung des UNO-Menschenrechtsrat zu unterstützen, die Saudi-Arabien scharf verurteilt wegen der Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi. Unser Land hat sich in der Generalversammlung der Vereinten Nationen bei der Abstimmung über eine Resolution zur Unterstützung des Vertrags über das Verbot von Atomwaffen der Stimme enthalten und sich so auf die Seite von Atommächten wie Frankreich, USA und Russland geschlagen.

Bedeutet dies einen Bruch mit der Vergangenheit?
Die humanitäre Tradition der Schweiz und das Einstehen unseres Landes für die Menschenrechte werden in Bern in Frage gestellt. Das darf nicht sein. Die moralische Position der Schweiz, ihre Glaubwürdigkeit und somit ihre Fähigkeit, Einfluss auszuüben, könnte Schaden nehmen, falls die Politik diesen Weg weiter beschreitet.

Wie könnte der andere, zukunftsweisende Weg aussehen?
Wir haben heute die entsprechenden Technologien, das Wissen und die finanziellen Mittel, um uns den globalen Herausforderungen zu stellen und um eine nachhaltige Entwicklung zu fördern. Wir müssen aber sicherstellen, dass jeder und jede von den Verbesserungen profitiert, denn alle Herausforderungen, denen wir uns gegenübersehen, hängen voneinander ab und haben einen gemeinsamen Ursprung. Der Wohlstand muss bei allen ankommen. Die Entwicklungen sind global und haben gleichzeitig Auswirkungen auf unser tägliches Leben. Darum ist Gerechtigkeit mehr als eine moralische, philosophische oder ethische Frage. Sie muss konkret werden. Gerechtigkeit ist der Grundstein moderner Gesellschaften.

Und diese Gerechtigkeit beginnt schon im Kleinen?
Ja, die Gerechtigkeit ist genau das, was beispielsweise die Offene Kirche Elisabethen anstrebt. Wir müssen erkennen, dass Geld und Geist, Ökonomie und Ethik zusammengehen. Ich sehe hier ein kluges wirtschaftliches und spirituelles Vorgehen, das auch ein wenig auf die Persönlichkeiten des Stifterpaares Christoph und Magaretha Merian-Burckhardt zurückgeht. Die beiden verstanden ihren Besitz als Auftrag, damit Gutes zu tun.

Interview: Frank Lorenz, kirchenbote-online, 7. Mai 2019

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