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«Rassismus verschwindet nicht über Nacht»

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10.05.2019
Der südafrikanische Theologe und frühere Präsident der Weltgemeinschaft der reformierten Kirchen, Jerry Pillay, nimmt Stellung zu den südafrikanischen Wahlen und den Nachwehen der Apartheidszeit innerhalb der reformierten Kirchen. Er weiss auch, warum Nelson Mandela auf eine Klage gegen die Schweizer Banken verzichtet hat.

Herr Pillay, vor 25 Jahren war die erste demokratische Wahl in Südafrika. Wie war das für Sie?
Erstmals war es erlaubt zu wählen, richtig zu wählen. Die Freude, in der Schlange vor dem Wahllokal zu stehen, ist kaum vorstellbar. Endlich fühlte ich mich vom Staat als Person anerkannt.

Das Apartheidsregime haben Sie bewusst erlebt?
Oh ja. Ich habe mich schon als Schüler politisiert. An der Universität schloss ich mich der Gruppe «Union of Christian Action» an. Eines Tages kam die Polizei und verhaftete mich zu Hause. Für meine Eltern war das ein Schock. Immer hatten sie mich gewarnt: Lass die Finger von der Politik! Es gab damals in der indischen Gemeinschaft einen Generationengraben. Die Älteren wollten sich mit dem System arrangieren, wir Jungen opponieren.

Wie hat sich das ausgedrückt?
Beispielsweise haben wir Jungen die Wahlen zum Dreikammersystem verweigert. Wahlboykott war unser politisches Statement, dass wir mit dem Feigenblatt-Parlamentarismus, der neben dem weissen Machtzentrum noch so Marionetten-Volksvertretungen für Schwarze und Inder einrichtete, nicht einverstanden waren.

Wie gestaltet sich heute das Verhältnis unter den verschiedenen Ethnien in Südafrika?
Mit der Apartheid verschwand nicht über Nacht der über Generationen eingepflanzte Rassismus. Heute existiert ein grösserer Spielraum für uns Menschen. Wir können überall unseren Wohnsitz wählen. Aber diese Freiheit hängt stark von den wirtschaftlichen Möglichkeiten ab.

Aber es gibt einen neuen Rassismus von schwarzen Südafrikanern gegen schwarze Einwanderer.
Wir haben elf Millionen Flüchtlinge aus Zimbabwe, aus Malawia, aus Kamerun oder Mosambik. Aus Ländern, die wirtschaftlich oder politisch instabil sind, und wo viele Menschen nur in der Flucht eine Alternative sehen. Eigentlich ist Südafrika sehr offen gegenüber Flüchtlingen – schon wegen der vielen Menschen, die während der Apartheid-Zeit Exil erhalten haben. Nun aber siedeln sich die Neuankömmlinge in den Townships der Ärmsten an. Die Bewohner dieser Armenviertel erleben die Migranten als Konkurrenz, die ihren Kampf ums Überleben noch schwerer machen.

25 Jahre Demokratie – Ihre Bilanz?
Unsere junge Demokratie startete gut mit Nelson Mandela, Mbeki hat sich ebenso wacker geschlagen. Aber dann verdunkelte sich mit der Präsidentschaft des durch und durch korrupten Zuma der politische Horizont. Es ist ein verlorenes Jahrzehnt, das uns wegführte von unseren Werten. Das Plündern wurde zur Regierungspolitik. Trotzdem bin ich hoffnungsvoll für unsere Zukunft. Cecile Ramphosa hat die richtigen Schritte eingeleitet. Die Bestätigung bei den gestrigen Wahlen wird ihm die Anerkennung und Autorität verschaffen, um auch politisch mehr gestalten zu können und um auch mit den korrupten Kräften im ANC aufzuräumen. 

Sie unternehmen mit einer multirassischen Delegation ihre Reformationsreise nach Europa. Leben die reformierten Kirchen Südafrika vor, dass die unsichtbaren Mauern zwischen den Ethnien bald niedergerissen werden?
Noch nicht ganz. Wir haben 2008/2009 den Versuch unternommen, die vier verschiedenen reformierten Kirchen, die sich im Kolonialismus und in der Apartheid entlang ethnischer Linien entwickelt haben, wieder zusammenzuführen. Wichtig dafür war, dass alle Kirchen jede Lehre, welche die Rassentrennung als den Willen Gottes rechtfertigt, ablehnen.

Das hat nun auch die Dutch Reformed Church, die  Kirche der Afrikaans sprechenden Weissen, getan. Lange hat sie die Apartheid biblisch gerechtfertigt.
Stimmt. Die Führungsorgane und auch die Synode sprechen sich mit überwältigender Mehrheit gegen jede biblische Apartheidsbegründung aus. Aber auf lokaler Ebene, bei den Gemeinden, konnten sie sich nicht durchsetzen, dies als ein allgemein gültiges Glaubensbekenntnis zu verankern.

Ist das Vereinigungsprojekt also gestorben?
Nein. Es gibt Kooperationen und gute Kontakte mit den Kirchenleitenden und auch einzelnen Gemeinden. Das hilft, dass irgendwann die historisch gewachsenen Hürden aus dem Weg geräumt werden.

Auch hier in der Schweiz gab es Pfarrerinnen und Christen, die sich in der Apartheidszeit entschieden für Bankenboykott und politischen Druck gegenüber dem rassistischen Regime einsetzten. Wie wichtig war die internationale Antiapartheid-Bewegung für den Befreiungsprozess?
Ich denke, wir wären nicht dort, wo wir heute sind. Die Kirchen machten weltweit moralischen Druck auf Politik und Wirtschaft und waren so ein entscheidender Faktor, um die Sanktionen und Boykotte auszulösen. Das zwang schliesslich das Regime in die Knie.

Viele Schweizer Aktivistinnen und Aktivisten hofften, dass nach dem Fall Nelson Mandela die Schweizer Banken mit einer Sammelklage vor US-Gerichte ziehen würde. Warum hat er dies nicht getan?
Das entsprach ganz Mandelas Persönlichkeit. Er wollte keine Rache, keine alten Rechnungen mit den Banken begleichen, sondern auf allen Ebenen einen Prozess der Versöhnung einleiten. Natürlich sagte er auch: Ihr habt euch lange genug auf das brutale Apartheid-Regime eingelassen. Jetzt habt ihr die Chance, mit euren wirtschaftlichen Möglichkeiten etwas für die Menschen zu tun, die unter diesem System gelitten haben.

Delf Bucher, reformiert.info, 10. Mai 2019

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