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«Es war, als würde ich zum Mond fliegen»

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24.06.2019
Lars Kottmann litt acht Jahre lang an Burnout und Schlafstörungen. Dann wanderte er vom Baselbiet nach Santiago de Compostela. 2500 Kilometer.

«Wir Pilger sagen, der Weg ruft einen», sagt Lars Kottmann in seinem Wohnzimmer, in dem einige metergrosse, wuchtige Naturbilder von seiner Pilgerreise hängen. Der 44-Jährige hat den Pilgerweg vom Baselbiet nach Santiago de Compostela zurückgelegt. 2500 Kilometer. Das hat ihn geprägt. Wenn er davon erzählt, fühlt sich sein innerer Weg doppelt so lang an.

«Die ersten Kilometer waren surreal»

Bis 2015 arbeitet Kottmann als stellvertretender Leiter in einem Lebensmittelgeschäft mit Café. Sein Job hat ihn ausgelaugt, er leidet an Burnout. Sein Alltag ist bleiern und leer, nachts findet er keinen Schlaf. Über die Monate wächst die Sehnsucht auszusteigen. Er merkt, dass er etwas tun muss. Irgendwann liest er die ersten Pilgerberichte. Als das Lebensmittelgeschäft schliesst, erkennt er die Möglichkeit «es» nun endlich zu tun. 

Im Frühling 2017 fasst sich der Baselbieter ein Herz und bricht von Wenslingen zum grössten Abenteuer seines – Lebens auf, wie er sagt. «Die ersten Kilometer fühlten sich surreal an. Durch die so vertrauten Gassen zu gehen mit dem Ziel Santiago –  das war, als würde ich zum Mond fliegen.» 

Bis zum Ende der Welt

Jährlich wandern Zehntausende auf dem Jakobsweg durch Europa nach Santiago de Compostela. In der ansonsten säkularisierten Gesellschaft boomt das Pilgern, beflügelt von Erfolgsromanen wie Hape Kerkelings «Ich bin dann mal weg».
1970 verzeichneten die Domherren in Santiago 68 Pilger, letztes Jahr suchten 327 000 das Grab des heiligen Jakobus auf. 

Und waren die Katholiken vor fünzig Jahren auf dem Camino unter sich, so begegnet man heute Protestanten, Atheisten, Buddhisten und Agnostikern gleichermassen. Alle sind auf der Suche nach Antworten, dem Sinn des Lebens, nach Gott, Abenteuern, der Natur oder sich selber. Da nützt es wenig, dass Reformatoren wie Luther, Calvin und Zwingli vor dem «Geläuff» gewarnt hatten, und predigten, dass Pilgerfahrten nicht näher zu Gott führen. «Lauf nicht dahin», mahnte Luther, «man weiss nicht, ob Sankt Jakob oder ein toter Hund da liegt.»

Zwischen Einsamkeit und Gemeinschaft

Auf dem Weg erlebte Lars Kottmann den Wechsel zwischen Einsamkeit und lebendiger Gemeinschaft. Keine störenden Anrufe, kein Ärger über Belangloses, keine Ablenkung durch die neuen Medien, die neu gewonnene Langsamkeit lässt ihn alles intensiver erleben. Die Tage werden zu gefühlten Wochen. «Ich lebte ganz im Moment», sagt er. «Mit der Zeit wurde das Leben einfacher, ein Pilger hat nur das, was er in seinem Rucksack mitträgt.» Oft weiss Lars Kottmann am Morgen nicht, wo er übernachten kann. 

Die ersten Wochen sind für ihn besonders hart. Kottmann kämpft bei seinem Aufstieg von Délémont auf die Jurahöhen mit Blasen an den Füssen und dem schweren Gepäck. Er überwindet über tausend Höhenmeter. Nach der ersten Woche will der Körper nur noch ausruhen. Ab Biel macht ihm die extreme Hitze von über 30 Grad zu schaffen. Wochenlang wandert er in der brütenden Sonne. Er kämpft, quält sich und befiehlt seinem Körper, trotzdem weiterzugehen. Auf dem Weg lernt Lars Kottmann Bescheidenheit. «Wir leben in einer Komfortzone, alles ist sofort erhältlich», bilanziert er. Beim Pilgern sehe dies oft ganz anders aus. Kein Wasser, volle Pilgerherbergen und die Ungewissheit, einen Schlafplatz zu finden.

Die Konfrontation mit den eigenen Grenzen habe ihm gutgetan, sagt Kottmann. «Ich lernte zu verstehen, dass eine Grenzerfahrung unterschiedliche Wahrheiten in sich trägt. Manchmal sagt dir eine Grenze, beiss dich durch, manchmal erzieht sie dich zur Ehrlichkeit, will dir aufzeigen: Das Limit ist erreicht. Beides hat zu meinem Genesungsprozess beigetragen.» Kottmann trifft unterwegs viele, die unter Burnout leiden. Doch der Weg verbindet und das Pilgern lehrt ihn, mutig auf andere zuzugehen. «Nach zwei Wochen gemeinsamer Wegstrecke mit einem Pilgerkollegen hatte ich das Gefühl, ihn seit Monaten zu kennen.»

Spiritualität und Gotteserlebnisse

Die Spiritualität sei auf dem Weg ständig ein Thema, sagt Lars Kottmann. Er kenne keinen Pellegrino, der nicht ein Versorgungswunder erlebt habe. Ein älterer Mann erzählte ihm, dass er einen selbst gezimmerten Wagen hinter sich herzog. Als die Achse brach, stand er genau vor dem Haus eines Mechanikers, der ihm spontan half. 

Kottmann erinnert sich an mehrere Erlebnisse, in denen er sich Gott nahe fühlte. Kurz nach Genf steht er kurz davor, aufzugeben. Die Hitze ist unerträglich, die Schlafprobleme nagen an den letzten Reserven. Zweifel macht sich breit, ob sich die Strapazen lohnen. Als er sich auf eine Bank setzt, landet ein Schmetterling auf seiner Hand und bleibt sitzen, minutenlang. Selbst als Lars aufbricht und den Rucksack überstreift, bleibt der Schmetterling seelenruhig sitzen und begleitet ihn ein Stück weit.

Hat ihn der Camino verändert? «Definitiv», sagt Lars Kottmann. In sein Leben sei wieder Ruhe eingekehrt. Er sei versöhnt mit sich, habe das Vertrauen ins Leben und sich wiedergefunden. Die Gewissheit, die 2500 Kilometer geschafft zu haben, lässt ihn heute auch grosse Hürden meistern. 

Viele Pilgerwege führen zum Ziel

Szenenwechsel: Interview im Restaurant «Bundesbahn» in Basel. Hier im Gundeli-Quartier hinter den Gleisen trifft sich einmal im Monat der Pilgerstamm zum Austausch. Man ist per Du. Acht Pilger sind an diesem Montagabend gekommen und plaudern eifrig übers Pilgern, nicht nur nach Santiago, auch zu Bruder Klaus, zu Franziskus oder auf andern bekannten Wegen.

Der Stammtisch ist sich einig, dass der Weg einen nicht nur körperlich verändert. Vera hat gelernt, zu vertrauen, etwa darauf, einen Platz für die Übernachtung zu finden. Gerade die Begegnung auf dem Weg verändere einen. Oder der Besuch der Kirchen und Jakobskapellen, fügen die anderen hinzu. Man erhalte Impulse, die zum Nachdenken anregen, erzählen sie. Einige meditieren unterwegs Lieder, Texte oder einen Gedanken. Unterwegs entstehen auch Freundschaften oder Liebschaften, Kompositionen und neue Lebensentwürfe wissen die erfahrenen Pilger am Stammtisch.

Viele, die auf dem Camino unterwegs sind, haben eine Krise oder Veränderung hinter sich. Die einen sind frisch pensioniert, geschieden oder haben einen Partner verloren. Andere stehen vor einem Stellenantritt oder einer wichtigen Entscheidung. In Fisterra, am ‚Ende der Welt‘, verbrennen einzelne Pilger ihre Kleidung unten am Meer als Zeichen für ihren Neuanfang. 

Als Gregor damals nach drei Monaten wieder nach Hause kam, war nicht nur sein Bart länger. Seine Frau und er hatten sich in diese Zeit verändert. «Wir mussten uns wieder aneinander gewöhnen», sagt der Theologe. Heute gehe er viel bewusster durch den Alltag.

Als er in der Kathedrale von Santiago de Compostela ankam, entschloss sich, Gregor, auch den Weg zurück in die Schweiz zu Fuss zurückzulegen. Der aufgehenden Sonne entgegenzugehen bedeutete für ihn, sich dem Leben neu zuzuwenden, erzählt er. «Noch heute mache ich oft ein Foto der Morgensonne, sie ist für mich ein Zeichen des Lebens, das mir jeden Tag neu geschenkt wird, ein Stück Auferstehung.»

Lars Kottmann ist heute glücklich, seinen Beruf als Kaufmann wieder ausüben zu können. Das Pilgern kann er anderen nur empfehlen: «Kein Pilgertraum ist zu gross, um ihn nicht wenigstens zu beginnen. Hab den Mut, aufzubrechen, Neues zu wagen und neugierig zu sein, auf das, was dich erwartet.» 

Und was rät der Baselbieter konkret? Die Schuhe einzulaufen und wetterfeste Outdoorkleidung einzupacken. Das andere werde sich ergeben. «Der Weg lehrt einen, wie wenig man braucht, um glücklich zu sein.» 

Michael Schäppi, Tilmann Zuber, 24.6.2019, Kirchenbote 

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