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Von den grossen Lebensfragen und dem alltäglichen Reichtum

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09.04.2020
An Ostern endet dieses Jahr eine Fastenzeit, in der nicht nur das geistliche Leben, sondern auch der Alltag von Verzicht geprägt war. Die Theologin Claudia Kohli erzählt, wie sie die Fastenzeit während der Corona-Krise erlebte, wie für sie das Glück aussieht und weshalb gerade jetzt Rituale eine noch wichtigere Rolle spielen.

Dieses Jahr prägte der Verzicht während der Fastenzeit nicht nur das religiöse Leben, sondern auch die säkulare Welt. Wie haben Sie das erlebt?
Claudia Kohli: Das Leben sieht total anders aus als noch vor drei Wochen. Es war noch nie so einfach wie dieses Jahr zu fasten. Und damit meine ich nicht den Verzicht auf Fleisch oder andere Nahrungsmittel. In dieser Fastenzeit konzentriert sich alles auf das Wesentliche: Konzerte sind abgesagt, Kinos geschlossen, gemeinsame Apéros müssen erst einmal warten. Ich verbringe seit drei Wochen die Tage mit unseren drei Kindern (6, 9 und 11-jährig) zu Hause, mein Mann arbeitet zurzeit Vollzeit im Gesundheitswesen. Ich fühle mich sehr gesättigt von den vielen Impulsen des Alltages mit den Kindern. Ich möchte gar keine weitere Ablenkung – auch keine Streaming-Predigten oder Radiopredigten. Diese ausserordentliche Fastenzeit hat für mich etwas Heilsames und zeigt mir das Glück der Einfachheit auf.

Wie zeigt sich das Glück der Einfachheit?
Etwa bei einem Ausflug mit den Kindern in den Wald nahe von unserer Wohnung, wo wir uns alle auf das Moos auf den Rücken legen und in die Baumkronen schauen. Das ist ein Moment von Glück in dieser verrückten Zeit.

Das klingt romantisch. Doch nicht alle haben diese Möglichkeit.
Absolut. Ich will die Situation auch überhaupt nicht idealisieren. Oft verliere ich die Nerven und es kracht. Zudem bin ich mir bewusst, dass ich letztlich sehr privilegiert bin, weil ich die Arbeit auf die Abende und die Wochenenden verschieben kann und nicht im Homeoffice arbeiten und gleichzeitig Kinder betreuen muss.

Wie gestaltet sich Ihr Alltag?
Am Morgen lernen die Kinder, am Nachmittag gehen wir in den Wald. In unserer Familie spielten Rituale schon vor Corona eine wichtige Rolle. Jetzt aber in diesem Ausnahmezustand sind sie noch wichtiger geworden; wir haben sozusagen Corona-Rituale entwickelt (lacht).

Wie sehen die aus?
Am Montagmittag sprechen wir am Mittagstisch zusammen Englisch, am Donnerstag Französisch. Im Anschluss dürfen unsere Kinder Tintin (Tim und Struppi) schauen und wir backen am Nachmittag eine französische Köstlichkeit, zum Beispiel Mille feuille (Crèmeschnitte). Am Mittwochmittag grillen wir im Wald eine Wurst. Am Samstag schenken wir jedem Kind ein Buch. Wir haben noch viele weitere Rituale. Einerseits leben wir sehr ritualisiert. Denn Rituale geben eine Orientierung, ordnen die Zeit. Anderseits aber leben die Tage stark von Kreativität, die den Ritus, das Alltägliche, unterbricht. Was uns in die Finger kommt, wird verbastelt. Meine Tochter hat mit einem Freund, der auf der anderen Strassenseite wohnt, ein Büchsentelefon gebaut. So hören sie sich regelmässig, statt sich zu sehen. Diese einfachen Dinge machen glücklich. Wir hatten bisher keine Minute das Gefühl, dass uns langweilig wäre. Noch einmal, wir sind privilegiert. Wir leben eine Art Familienkloster, in dem es allerdings häufiger als sonst auch zu Explosionen kommt.

Ihre Wohnung ist im selben Gebäude untergebracht wie die Berner Diakonissen. Sehen Sie die Schwestern noch?
Kaum, und wenn, dann nur aus Distanz. Die Diakonissen bewegen sich mehrheitlich nur noch auf ihren Stockwerken. Die pflegebedürftigen Schwestern, die im Pflegeheim leben, werden von den anderen Diakonissen momentan nicht besucht. Sie sind aber zum Glück alle gesund, wie mir eine Schwester in einer E-Mail bestätigte. In normalen Zeiten liegt immer mal wieder etwas Süsses für die Kinder vor der Wohnungstür. Vor ein paar Tagen war es eine Karte mit drei Fünflieber, damit sich unsere Kinder im Quartierladen selber etwas zum Schlecken kaufen können.

Hat sich Ihre Spiritualität in den letzten drei Wochen verändert?
Der Fokus ist momentan stark auf das Hier und Jetzt gerichtet. Mitten im Alltagsstrudel versuche ich die zauberhaften Momente mit den Kindern zu fassen. Wir führen ein Tagebuch zusammen, in dem wir Momente wie jene im Wald oder die gebackenen Mille feuille festhalten. «Gott in allen Dingen finden», wie es die ignatianische Spiritualität sagt, ist für mich auch jetzt ganz zentral. Gleichzeitig merke ich, dass die Ungewissheit nagt. Seit Ausbruch der Pandemie schlafe ich nicht mehr gut. Dauernd erwache ich. Ich frage mich, was die Krise mit uns macht und was das alles für unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft, unsere Zukunft heisst. Es ist wie eine stete Spannung zwischen den grossen  – auch bedrohlichen - Fragen des Lebens und dem alltäglichen Reichtum.

Nicola Mohler, reformiert.info, 9. April 2020

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