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«Keine Regierung kann sich letztlich auf Gott und göttliches Recht berufen»

von Silvana Pasquier
min
25.05.2020
Jesus predigte, die andere Wange hinzuhalten. Sind Christen und Christinnen deshalb machtlos? Nein, sagt der Theologe Pierre Bühler. Im Gegenteil, sie sollen sich mutig einmischen, wenn Menschen verachtet und ausgegrenzt werden.

Pierre Bühler, das Symbol des Christentums ist das Kreuz. Zeigt dieser Galgen der Antike die Ohnmacht der Christen und Christinnen?

Sie sind nicht ohnmächtig, es gibt durchaus auch mächtige Christen. Aber das Kreuz mahnt daran, wie wichtig es ist, die Ohnmacht mit zu berücksichtigen. Und diese wirkt als Korrektiv, denn Macht kann rasch missbraucht werden. Wer vom Kreuz her kommt, hat einen anderen, kreativen Umgang mit der Macht.

Inwiefern?

Der Theologe Karl Barth hat von einer «Affinität zur Demokratie» gesprochen. Wer mit der Macht demokratisch umgeht, setzt dieser Macht gleich Schranken, achtet darauf, dass sie nicht zu einer Allherrschaft wird.

Eine der zentralen Stellen im Umgang mit der Macht ist die Geschichte von der Versuchung Jesu in der Wüste. Beruht die Macht von Jesus darauf, dass er dem Satan widersteht?

Ja, diese Geschichte zeigt, dass in der Macht die Versuchung steckt, alles beherrschen zu wollen. Diese Anmassung stellt Jesus durch seinen Verzicht in Frage. Wenn Macht Allmacht wird, droht der Missbrauch.

Diktaturen beruhen auf der Gewalt der Armee und der Geheimdienste, vor denen sich die Bewohner fürchten. Wie lässt sich dieser Kreislauf der Angst brechen?

In Diktaturen wird Macht personifiziert. Das war bei Stalin so, der sich als Vater aller Völker bezeichnete, und heute etwa beim nordkoreanischen Machthaber Kim Jong-un. Im demokratischen Verständnis der Macht geht es nicht um eine Person, sondern um ein Amt, über das Rechenschaft abzulegen ist. Die Macht ist zwischen Parlament, Regierung und Justiz aufgeteilt, und das bricht Allmacht.

In der heutigen Gesellschaft hat Macht einen negativen Unterton. Zu Recht?

Nein, Macht an sich ist neutral. Es gehört zum menschlichen Zusammenleben, dass Machtverhältnisse geregelt werden. Sie kann durchaus positiv sein, wenn das nüchtern und reflektiert geschieht.

Trotzdem: Auch in einer Demokratie besteht die Gefahr, dass die Bevölkerung Einzelne zu ihrem Führer erhebt. Auch Hitler wurde in den dreissiger Jahren vom Deutschen Volk demokratisch gewählt.

Ja, das ist eine alte Versuchung, die auch Demokratie korrumpiert, wie im Fall Hitlers. Die Bevölkerung lässt sich durch eine Person manipulieren, die Sicherheit verspricht und alle Bedürfnisse und Sehnsüchte erfüllt. Deshalb muss die Macht entpersonifiziert werden.

Der Philosoph Michel Foucault schreibt,
man vergesse, dass die Macht niemals voll und ganz auf einer Seite liege. Auch die
Unter-tanen haben Macht. Übersehen wir
dies als Konsumenten, Steuerzahler und Arbeitende allzu oft?

Michel Foucault hat Recht. Gerade in der Reformationszeit begann man sich zu fragen, ob man ungerechten Tyrannen widerstehen dürfe. Die moderne Demokratie macht das Volk zum Souverän. Das heisst: Die Bürger und Bürgerinnen müssen Verantwortung übernehmen. Das gilt für den Konsum, die Politik, die Steuern, für die Fragen des Klimas und der sozialen Gerechtigkeit. Leider sind viele heute zu passiv.

Die Kirchen sind auch Teil dieser Gesellschaft. Sollte sich die Kirche stärker bei sozialen Fragen einbringen?

In der Vergangenheit, im Mittelalter etwa, dominierte die Kirche die ganze Gesellschaft. Das hat sich mit der Säkularisierung vollkommen verändert, und das ist auch gut so. Heute sind die Kirchen eine Instanz unter anderen und so sollten sie an der öffentlichen Debatte teilnehmen. Sie sollten ihre Stimme stärker erheben, wenn die Geringsten verachtet werden.

Etwa in der Flüchtlingsfrage, wie Sie immer wieder betonen.

Ja. Die Flüchtlingsthematik ist heute zu einer Testfrage geworden, die zeigt, wie es um die Kirchen steht. Hier geschieht schlimmste Ausgrenzung, und dazu hätten die Kirchen viel zu sagen. 

Tun dies die reformierten Kirchen in der Schweiz zu wenig?

Die Kirchenleitungen befürchten, sie könnten mit diesem heiklen Thema Mitglieder verlieren. Gerade bei den Osterappellen zeigte sich aber, dass viele Mitglieder bereit wären, Flüchtlinge aus den griechischen Lagern aufzunehmen. Die Kirchenleitungen hielten sich zurück.

Zur Machtlosigkeit: Jesus fordert in der Bergpredigt, dass wenn jemand einen auf die linke Wange schlägt, man ihm auch die rechte hinhält.

Die Gewaltlosigkeit hat etwas Utopisches, in einem positiven Sinne. Sie richtet sich subversiv gegen eine Gewalt, die das letzte Wort haben will. Der gewaltlose Widerstand bricht den Kreislauf der Gewalt. Denken Sie an Martin Luther Kings gewaltlosen Kampf für die Bürgerrechte der Schwarzen in den USA.

Stichwort subversiv. Zielt das Jesuswort «Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser ist, und Gott, was Gott ist» auch in diese Richtung und entlarvt subversiv den Machtmissbrauch?

Traditionell hat man das oft als Aufteilung verstanden: Der Kaiser herrscht über die Welt, und Gott über den Himmel. Doch enthält der Vers eine Machtkritik: Der Kaiser ist kein Gott, sondern ein Mensch, dem die Macht anvertraut wurde. Keine Regierung kann sich letztlich auf Gott und göttliches Recht berufen. Es ist eine Kampfparole gegen die ständige Vergötzung der Macht.

Wo sehen Sie in der heutigen Schweizer Gesellschaft die Schwierigkeiten im Umgang mit der Macht?

Am schwierigsten ist, dass sich die Bürger von der komplexen Welt immer mehr zurückziehen. Oft beteiligen sich knapp 40 bis höchstens 50 Prozent der Bevölkerung an den Abstimmungen. Die Kirchen sollten ihre Mitglieder aufrufen, Verantwortung zu übernehmen, gerade bei heiklen Themen wie Klima, Flüchtlinge und soziale Gerechtigkeit.

Indem die Kirche politisiert?

Nicht wie eine Partei, sondern indem sie stets auf ihre Grundüberzeugung der Nächstenliebe hinweist. Mich prägt stark ein Zitat aus dem Matthäusevangelium: «Achtet darauf, dass keiner dieser Geringen verachtet wird» (Matthäus 18,10).

Interview: Tilmann Zuber, Kirchenbote, 25.5.2020

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