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«Im Talar liessen mich die Polizisten in Ruhe»

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17.06.2020
Scotty Williams ist heute Pfarrer in St. Gallen. Er wurde tief im Süden der USA geboren und hat Rassismus erlebt. Er ist skeptisch, ob der Rassismus je überwunden werden kann.

Scotty Williams, was dachten Sie, als Präsident Donald Trump mit der Bibel in der Hand vor der St. John's Episcopal Church in Washington posierte?
Das war respektlos. Präsident Trump hatte keine Erlaubnis, sich vor der Kirche fotografieren zu lassen. Er wollte mediale Aufmerksamkeit erreichen. Er missbrauchte die Bibel und die Kirche für seine Rede über «Law and Order».

Zurzeit protestieren tausende Menschen in den USA auf der Strasse gegen Rassismus. Hat Sie das überrascht?
Ja und Nein. Ich war nicht überrascht über den Ausbruch der Unruhen angesichts des brutalen Vorgehens der Polizei, der sozialen Ungerechtigkeit und des Rassismus-Problems. Damit musste man seit längerem rechnen. Überraschend war, dass George Floyd in Minneapolis starb und die Proteste dort begannen. Minneapolis ist eine liberale, weltoffene und multikulturelle Stadt.

Haben Sie auch Rassismus erlebt?
Ich stamme aus Louisiana im tiefen Süden der USA. In der Stadt lebten damals die Weissen und Schwarzen getrennt in eigenen Quartieren. Als ich ein Teenager war, zog meine Familie nach Minnesota. Dort besuchte ich die Schule, die Universität und das Theologische Seminar. Ich habe oft Rassismus erlebt und wurde mit dem N-Wort beschimpft. Während meines Vikariats trug ich auf der Strasse einen Talar, so dass mich die Polizei in Ruhe liess. Eine schwarze Pfarrkollegin hatte mir dazu geraten.

Was ist der Grund?
So konnte ich mich schützen. Die Polizei respektiert einen Pfarrer oder Priester. Ansonsten wird man als Schwarzer leicht zum Opfer einer Verwechslung, wie es dann später heisst.

Warum ist der Rassismus in Amerika so verbreitet?
Rassismus ist das Instrument einer weissen Elite, welche die Macht behält, indem sie die Gesellschaft spaltet und beherrscht. Seit den Gründervätern gibt es in den USA diese anglosächsische, protestantische weisse Klasse. Sie herrschte über die arme, weisse Bevölkerung, die Schwarzen und die amerikanischen Ureinwohner, die sich zur Rebellion vereinigten. Um diese zu spalten, erteilte die Elite der weissen Bevölkerung gewisse Privilegien. Und appellierte an sie, dass sie aus der gleichen Heimat stammten, den gleichen Glauben und die gleiche Hautfarbe hätten wie die herrschende Elite. So entstand der Rassismus in den USA, der die Menschen bis heute instrumentalisiert.

Dieser Rassismus lässt sich kaum überwinden.
Ja. Der Rassismus wurde geschaffen, um die Bevölkerung zu spalten und Zweifel zu säen. Wie erleben dies jetzt, wir haben dies in der Vergangenheit erlebt. Wie oft demonstrierten die Menschen schon auf den Strassen? Die Geschichte der Bürgerrechts-Bewegung reicht weit zurück ins letzte Jahrhundert. Und trotzdem hat sich wenig an der Situation der schwarzen Bevölkerung geändert.

Sie sind skeptisch.
Ja. Immer und immer wieder hat man mit Märschen, Protesten und Gebeten auf den Rassismus aufmerksam gemacht. Es braucht eine echte, tiefe Auseinandersetzung mit dem Rassismus in unserer Gesellschaft. Die Weissen müssten sich ehrlich mit den Wurzeln und Strukturen des Rassismus auseinandersetzen. Sie müssten anerkennen, dass dies ein Problem der weissen Gesellschaft ist und sich auch die Frage nach ihrer eigenen Schuld stellen. Und sie müssten sich fragen, was sie tun können, um solche Verbrechen wie den Tod von George Floyd zu verhindern. Im Gegensatz zu Europa haben wir in den USA nur eine Perspektive auf den Rassismus. Wir haben das Gefühl, er sei von der Natur her gegeben und blenden alle anderen Aspekte aus.

Sie halten nicht viel vom Austausch zwischen Schwarz und Weiss?
Doch wir dürfen nicht müde werden, das Gespräch zu führen. Aber nicht an offiziellen Anlässen, sondern im Alltag. Wenn ich merke, dass jemand Schwierigkeiten mit Andersfarbigen hat, sage ich zu ihm, setzen wir uns zusammen, etwa bei einer Eiscreme, und reden darüber und hören einander zu. In solchen Momenten kommt etwas in Bewegung und manchmal entstehen so Freundschaften.

Die Bibel sagt klar Nein zu Rassismus. Wie sieht es da mit den Kirchen in den USA aus?
Es gibt Gemeinden, auch weisse, die kämpften schon in der Vergangenheit gegen Rassismus. Andere wollen keine Farbigen in ihren Reihen.

Wirklich?
Sicher. In Louisiana predigte ein Pastor in den 80er Jahren gegen die Vermischung der Rassen. Und einige Kirchen pflegen Beziehungen zu Gruppierungen, die Andersfarbige unterdrücken wie der Ku Kluks Klan. Es gibt auch heute einige Orte, wo die Kirchen nach der Hautfarbe getrennt sind.

Haben Sie auch in der Schweiz Rassismus erlebt?
Ja, zweimal. Einmal verlangte eine ältere Dame nach einem Pfarrer. Ihre Angehörigen hatten mich gewarnt, dass sie Angst vor schwarzen Menschen habe. Als ich sie besuchte, merkte ich, dass ihre Vorurteile auf den TV-Krimis beruhen, in denen Schwarze Drogen verkaufen und Menschen überfallen. Der zweite Vorfall geschah in einer Diskussionsrunde unter Pfarrern. Einer der Pfarrer fiel mir dauernd ins Wort und widersprach mir permanent. Als die anderen ihn darauf ansprachen, zeigte sich, dass er Mühe mit Afrikanern hat. Ich sagte ihm, dass ich Amerikaner sei, studiert und doktoriert habe und in der Landeskirche arbeite. Aber es sollte keine Rolle spielen, ob ich aus den USA oder Nigeria komme, jeder Mensch hat das Recht mitzureden. Und dann gibt es noch den gut gemeinten Rassismus.

Gut gemeint?
Ja, wenn Leute mir erklären, dass sie nicht die Hautfarbe sehen, sondern den Menschen. Das ist gut gemeint aber rassistisch. Denn an meiner Hautfarbe ist nichts falsch, man soll sie sehen. Sie gehört zu Scotty und ist Teil meiner Identität. Und das ist gut so.

Interview: Tilmann Zuber, kirchenbote-online

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