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Sans Papiers: «Das Thema beschäftigte mich Tag und Nacht»

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25.08.2020
Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga ehrte am 1. August 54 Corona-Heldinnen und -Helden. Damit wurden Menschen ins Zentrum gesetzt, die sich während des Lockdowns für die Gesellschaft eingesetzt hatten. Eine ist Regula Erazo.

«Ich war sehr überrascht, dass gerade ich als Heldin eingeladen wurde», sagt Regula Erazo, 64, und lacht bei dem Gedanken daran, eine Heldin zu sein. Heldin sei ein übertriebener Begriff, der überstrapaziert und einfach gerne von Medien verwendet würde. Sie sei stellvertretend für die gesamte Beratungsstelle geehrt worden, meint sie. Die offizielle Feier, an der sie teilgenommen hatte, ist ihr als sehr schöne, feierliche Veranstaltung in Erinnerung geblieben, die eine gute Gelegenheit war, um das Thema Sans Papiers einfliessen zu lassen, das ihr so sehr am Herzen liegt.

Die Bundespräsidentin kam mit dem Schiff
An der diesjährigen Bundesfeier auf der Rütliwiese waren corona-bedingt nur 200 Gäste eingeladen. Letztes Jahr waren es noch zehnmal so viel. Trotzdem schien alles zu stimmen. Das Wetter war nicht zu heiss, der Regen fing erst nach der Feier an, ein Risotto füllte die knurrenden Mägen, Ständchen der Musikkapelle und einer Alphornbläserin sorgten für Unterhaltung.

Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga kam wie alle Gäste mit dem Schiff angereist. Ihr Ziel war es, eine Ansprache über die Solidarität aller Schweizerinnen und Schweizer während der letzten paar Monate zu halten.

Plexiglasscheiben im Akkord
Die Schweiz habe funktioniert, sagte sie dann, auch wenn die Corona-Krise noch nicht vorbei sei. Im Anschluss verteilte sie 25 Bäumchen für die Helden und Heldinnen. Je ein Mann und eine Frau aus 26 Kantonen und der «fünften Schweiz» waren zu Corona-Helden auserkoren worden. Aus dem Kanton Luzern wurden Regula Erazo und Bruno Arnold, Schreiner vom Kantonsspital Wolhusen, geehrt. Er hatte im Akkord Plexiglasscheiben aufgebaut, mit denen die Distanzregeln im Krankenhaus eingehalten werden konnten. Dafür musste er viel Freizeit opfern, gleich wie Regula Erazo.

120 Dossiers in drei Wochen
2017 liess sie sich als Mitarbeiterin der Beratungsstelle Sans Papiers, nach insgesamt sechs Jahren, pensionieren. Im April 2020 dann sprang sie in die Rolle einer freiwilligen Mitarbeiterin. Die Beratungsstelle hatte trotz Corona ihre Pforten offengelassen. Kamen zu Beginn nur spärlich Menschen, sprach sich das Angebot via soziale Medien schnell herum. Irgendwann kamen so viele Hilfesuchende, dass die Wartenden neben dem Empfangszimmer in der gegenüberliegenden Kirche St. Anton Platz nehmen mussten.

«Innert dreier Wochen bearbeiteten wir 120 Dossiers von Gesuchstellenden, die zum ersten Mal in die Beratungsstelle kamen», erinnert sich Regula Erazo. Unter normalen Umständen seien es nebst den laufenden Fällen zwei oder drei neue im Monat. Was den Arbeitsanfall natürlich stark erhöhte. «Wir mussten die Sorgfaltspflichten einhalten und jeden einzelnen Fall seriös abklären, ob die Bedürftigen tatsächlich bedürftig sind, auch wenn wir sehr unter Zeitdruck standen.»

Emotional stark gefordert
Das Team habe dabei gut funktioniert. Man erstellte in Blitzgeschwindigkeit ein Konzept, bei dem man Hand in Hand zusammenarbeitete, um den Arbeitsanfall bewältigen zu können «Es war schön zu sehen, dass in der Krise alle zusammengestanden und am gleichen Strick gezogen haben.» Dazu gehörten auch online Sitzungen um 21 Uhr.

Nicht nur der zeitliche Druck setzte Regula Erazo zu. «Diese Zeit hat mich emotional sehr in Anspruch genommen», sagt sie. «Die ganze Thematik ist zwar nicht neu für mich, trotzdem ist es schwierig, so vielen hilfsbedürftigen Menschen in die Augen sehen zu müssen, einem derart hohen Erwartungsdruck standzuhalten, so viele Einzelschicksale zu erleben.» Rund um die Uhr beschäftigte sie dieses Thema. «Vor dem Schlafengehen, nach dem Aufstehen, ich dachte immer daran.»

Heute ist Regula Erazo wieder im (Un-)Ruhestand. Sie geht ihren vielen Hobbys nach, hütet die vier Enkelkinder, arbeitet im Vereinsvorstand mit und gibt bei Bedarf in Einzelfällen Tipps ab. Auch kämen immer wieder ehemalige Sans Papiers zu ihr, die sie früher betreut habe. «Sie kommen dann mit Fragen zu Versicherungen, zu Verträgen, zur Einschulung der Kinder.»

Viele positive Feedbacks
Nach der Preisübergabe bekam sie viele positive Feedbacks, E-Mails und handgeschriebene Briefe von Beiräten des Vereins, Vereinsmitgliedern oder nahestehenden Personen. Das Thema Sans Papiers ist nach wie vor eine Herzensangelegenheit für sie. «Die Schweiz ist ein so engmaschig organisierter Sozialstaat, und trotzdem gibt es noch immer Zwischenräume. Sans Papiers leben, existieren, arbeiten mit uns, jedoch immer im Graubereich, ohne Rechte.» Sie ist dankbar, dass es Stiftungen, Einzelpersonen und Kirchen gibt, welche den Verein finanziell unterstützen. «Auch die reformierte Landeskirche übernimmt einen grossen Teil der Finanzierung, wofür wir dankbar sind, und ohne den es nicht gehen würde.»

Verein Sans Papiers
Die Beratungsstelle Sans Papiers berät Menschen, die in der Schweiz leben, ohne Aufenthaltsbewilligung. Gegründet wurde sie 2010 in Luzern. Vier Mitarbeiterinnen sind derzeit für die Beratungsstelle tätig sowie 22 ehrenamtliche Personen. Sie begleiten Ratsuchende zu verschiedenen Amtsstellen, unterstützen sie beim Bewältigen des Alltags oder helfen ihnen bei juristischen und rechtlichen Fragen. Getragen wird der Verein von Stiftungen, Einzelpersonen und Kirchen. Auch die reformierte Kirche des Kantons Luzern unterstützt den Verein finanziell.

Carmen Schirm-Gasser

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