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«Der Slogan 'Nie wieder' verliert an Bedeutung»

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20.03.2021
Judensterne und Vergleiche mit NS-Opfern sind unter Corona-Rebellen keine Seltenheit. Historikerin Juliane Wetzel über Folgen der Holocaust-Verharmlosung und Gegenmassnahmen.

Der Schweizerische Antisemitismusbericht zeigt: Die Pandemie fördert antisemitisches Gedankengut, insbesondere im Internet. Überrascht Sie das?
Nein, ich habe damit gerechnet. Kaum gab es die ersten Schlagzeilen über Corona in Europa, war es nur noch eine Frage der Zeit. Juden waren schon immer die Sündenböcke bei Epidemien und Katastrophen. Zu Zeiten der Pest wurden sie beschuldigt, Brunnen vergiftet zu haben, 1348/49 kam es in Deutschland deshalb zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen sie, zu entsetzlichen Pogromen. Auch die Schweinepest sollen Juden eingeführt haben, obwohl sie Schweinefleisch nicht einmal essen. Ebola war auch so ein Thema. Und selbst den Tsunami haben sie angeblich ausgelöst – mit Unterwasser-Bomben im Pazifik. Das ist das Besondere am Antisemitismus, er passt sich den Zeitläufen an. Die Bilder, die dabei benutzt werden, bleiben dabei die gleichen. 

Welche zum Beispiel?
Etwa das Konterfei des «happy merchant», des umtriebigen jüdischen Händlers, der sich die Hände reibt. Der hat jetzt einfach eine Spritze in der Hand, nach dem Motto: «Wir impfen Euch das Virus ein». Oder es sind Personen aus der realen Welt, die beschuldigt werden, etwa der jüdische Investor George Soros. Er hat in den letzten Jahren die Familie Rothschild abgelöst als angeblicher Verursacher allen Übels. Diese Phänomene sind altbekannt, über das Internet mit den sozialen Medien lassen sich solche Theorien und Bilder nur noch viel schneller verbreiten.

Haben Sie im Zuge der Pandemie besonders krude Beispiele gesehen?
Ein Karikaturist hat das Eingangstor von Auschwitz-Birkenau gezeichnet mit Wachen am Eingang, die eine Spritze hielten. Das war schon besonders geschmacklos. 

Die Parallelen, die sogenannte Corona-Rebellen zwischen der NS-Diktatur und den heutigen Pandemiemassnahmen ziehen, fallen auf. Judensterne an Demonstrationen, Protestler vergleichen sich mit Opfern der Diktatur, etwa Sophie Scholl. Wie beurteilen Sie das?
Das ist eine total verquere und gefährliche Trivialisierung des Holocaust. Ich halte das für eine Form des sekundären Antisemitismus. 

Das heisst?
Menschen, die solche Vergleiche anstellen, verdrängen die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und den Taten der NS-Diktatur. Hinein spielt zumindest in Deutschland, dass man den Juden die Schuld daran gibt, dass das Land nicht zur «Normalität» zurückkehren kann, weil sie immer an den Holocaust erinnern würden. Inwiefern das denjenigen, die diese Vergleiche anstellen, immer bewusst ist, sei dahingestellt. Bei manchen ist es vielleicht auch Unwissenheit.

Wo führen diese Vergleiche hin? Gefährden sie die Erinnerungskultur?
Der Massenmord an Juden wird zu einem Ereignis, das «halt so war». Der Slogan «Nie wieder» verliert an Bedeutung. Wenn man sich mit dem Nationalsozialismus nicht mehr auseinandersetzt, wird die Erinnerungskultur zum Kranzabwurf, wie es der Journalist Richard C. Schneider formulierte. Diese Vergleiche nehmen aber übrigens nicht nur im Zuge der Pandemie zu. In Deutschland etwa äussern vermehrt Anhänger der rechten AfD bei Besuchen von Gedenkstätten solche Gedanken und fordern die Guides zu Diskussionen heraus. In osteuropäischen Ländern wird vermehrt der Stalinismus mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt. Auch deswegen muss man dagegen angehen. 

Anders als klare antisemitische Äusserungen oder auch die Leugnung des Holocaust stehen diese banalisierenden Vergleiche nicht unter Strafe. Was wäre ein Weg, gegen sie vorzugehen?
In der Holocaust Remembrance Alliance, der sich 34 Staaten angeschlossen haben, darunter die Schweiz, steht das Thema hoch auf der Agenda. Dort habe ich an Empfehlungen mitgearbeitet. Es geht darum, Menschen in Schlüsselpositionen, etwa bei der Polizei, der Staatsanwaltschaft, in den Medien oder in Botschaften, dafür zu sensibilisieren, was diese Vergleiche für Folgen haben. In welch verschiedenen Formen Antisemitismus überhaupt auftreten kann. 

Das klingt wie ein langwieriger Prozess. Die Judensterne an Demonstrationen muss man also tolerieren?
Nein, das muss man nicht. München hat Judensterne an Demonstrationen verboten. Damit setzt man zumindest ein Zeichen. Dadurch, dass solche Vergleiche öffentlich werden, gibt es auch mehr Menschen, die sich davon distanzieren.  

Ein Verbot wäre wieder Wasser auf den Mühlen der Corona-Rebellen …
Ja, natürlich. Verbote verändern auch nichts in den Köpfen. Aufklärung ist deswegen langfristig der wichtigere Weg.

Cornelia Krause, reformiert.info

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