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Gedenkstätte für Menschen, die Grenzen ausgelotet haben

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16.06.2021
Im Lauterbrunnental im Berner Oberland zeugen viele private Gedenkstätten von Unfällen beim Risikosport. Jetzt gibt es auf dem Friedhof eine zentrale Lösung.

Ein feuchtwarmer, bedeckter Juninachmittag auf dem Friedhof Lauterbrunnen im Berner Oberland. In der Nähe stürzt schäumend der Staubbach über die senkrechte Felswand; es ist der höchste frei fallende Wasserfall der Schweiz. Bei einem Blick weiter hinauf ins Tal zeigen sich weitere schroffe Felswände. Es wirkt, als wären sie mit einer riesigen Schaufel aus den Bergen herausgestochen worden. Die Natur ist hier nahe und ungezähmt.

In dieser Landschaft suchen viele Menschen das Gegenprogramm zum behüteten Leben in der Zivilisation: die wilde, urwüchsige, erhabene Schönheit der Natur. Manche holen sich dieses Erlebnis wandernd oder bergsteigend, andere suchen stärkere Reize und frönen dem Gleitschirmfliegen und Basejumping. Letzteres heisst auch «Objektspringen» und besteht darin, von einem hohen Objekt – Hochhaus, Sendemast, Fels – hinunterzuspringen, mit einem Spezialfallschirm ohne Notschirm, da sich dieser wegen der relativ geringen Sprunghöhe eh nicht öffnen könnte. Manche springen auch in einem Wingsuit, einem «Flügelkleid», das ein vogelflugähnliches Gleiten ermöglicht.

Raum wird ungefragt vereinnahmt
Basejumping ist eine Risikosportart. Entsprechend kommt es gerade im Lauterbrunnental, das ein Eldorado für Basejumping ist, hin und wieder zu tödlichen Unfällen. Privat erstellte Gedenkstätten mit Blumen, Kerzen, Plaketten, Erinnerungsgegenständen und zum Teil sogar Urnen zeugen an verschiedenen Stellen im Tal davon. Auf eine etwas ambivalente Weise: Einerseits werden Passantinnen und Passanten zum Nachdenken über die Vergänglichkeit eingeladen, andererseits wird öffentlicher Raum ungefragt für fremde Trauer vereinnahmt. Was Unbeteiligte seltsam berühren oder sogar ärgern kann.

Wie mit diesem Dilemma umgehen? Lauterbrunnen hat eine Lösung gefunden. Auf dem Friedhof steht seit Neuestem eine offizielle «Gedenkstätte für Unglücksopfer im Lauterbrunnental», wie eine Plakette verkündet. Hier besteht nun die Möglichkeit, zentral die Namen von verunfallen Personen an einer gemeinschaftlichen Tafel anzubringen. Die Tafel ist Teil einer Skulptur, die aus zwei massiven, roh behauenen Felsblöcken besteht. Am rechten Block sind, im Metall gegossen, Pickel und Seil als Symbole des Bergsteigens angebracht, der linke Block zeigt auf einer Metallplakette einen fliegenden Vogel mit Bezug auf die Basejumper. Zwischen den Steinen steht ein blumengefüllter Weidenkorb, davor breitet sich eine in Stein gegossene riesige Schwungfeder aus. Eine kleine Kiesfläche und eine halbkreisförmige Steinbank vervollständigen die Anlage.

«Wir wollen es nicht verbieten»
«Die Idee zu einer solchen Gedenkstätte kam bereits vor einigen Jahren auf», sagt Markus Tschanz, Pfarrer in Lauterbrunnen. Eine Zeit lang sei es um das Vorhaben still geworden, dann habe man es im Kirchgemeinderat wieder aufgegriffen, mit der Einwohnergemeinde angeschaut und nach einigen Abklärungen schliesslich auf dem Friedhof realisieren können.

Die Gedenkstätte hat auch den Charakter eines Mahnmals, erinnert mit dem Vogel und der grossen Feder an die antike Sage des Ikarus, der fliegen wollte, der Sonne zu nahe kam und abstürzte. Ist es aus christlicher Sicht nicht problematisch, für einen Adrenalinkick sein Leben aufs Spiel zu setzen? «Jeder Entscheid ist letztlich mit einem Risiko verbunden, andere mehr, andere weniger», sagt Tschanz.

Der Sinn der Gedenkstätte liege nicht darin, Basejumping, Gleitschirmfliegen oder Klettern zu verbieten. Der Mensch entscheide selbstverantwortlich. Das bedeute aber auch, darüber nachzudenken, was man bei gefährlichen Unternehmungen riskiere. «Es gehört zu uns Menschen, dass wir in Beziehung stehen. Setzen wir uns einem hohen Risiko aus, sind davon auch andere Menschen betroffen – jene, die um uns trauern.»

Kalkuliertes Risiko
Ohne Zweifel gehe es den Basejumpern – die übrigens sehr freundliche Menschen seien – nicht darum, leichtsinnig Gott beziehungsweise das Schicksal herauszufordern oder sogar mit dem Suizid zu flirten, erklärt der Pfarrer weiter. Die Triebfeder sei eine ganz andere. Es gehe ihnen um Grenzerfahrung und damit um Transzendenz. Um eine Art Gotteserlebnis letztlich, um Spiritualität, säkulare Mystik. «Diese Leute blenden das Risiko nicht aus, sie kalkulieren es ein.» Wie weit sie sich wirklich damit auseinandersetzten, müsse aber offenbleiben.

Hans Herrmann, reformiert.info

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