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Revolution von unten

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30.06.2021
«Als die Moral baden ging» – Das geschlechtergetrennte Badeleben am Bodensee liess sich schwer durchsetzen

«Es lächelt der See, er ladet zum Bade», schrieb einst Friedrich Schiller in «Wilhelm Tell». Beide, das Drama und die geschlechtergetrennte Badekultur, endeten mit einer Revolution von unten.

Bis 1920 verfügten kaum Häuser über Badezimmer und fliessend Wasser. Ärzte und Lokalpolitiker, beseelt von sozialem Sendungsbewusstsein, schlossen sich als private Seebad-Aktiengesellschaften zusammen. Nun konnte sittenstreng in brettervernagelten, E-förmigen Seebadeanstalten gebadet werden. Ein langer Steg führte zu den nach Geschlechtern getrennt, auf Holzpfählen im See stehenden Kabinen mit Badewannen, Badeöfen und höhenverstellbaren Bassins. Vom Ufer aus waren neugierige Blicke ins Innere verwehrt. Einige dieser Bauten stehen heute noch in Rorschach, Schaffhausen, Zürich oder Luzern.

Die Seebadeanstalten eigneten sich bestens als Exerzierfeld für Hygiene und Moral: Schulkindern vermittelten Lehrer den Vorzug eines wöchentlichen Vollbades und sie wurden darauf getrimmt, nur unter Gleichgeschlechtlichen zu baden. Die männliche Dorfjugend aber setzte sich abends in der Romanshorner Seebadeanstalt auf ein Geländer, um nicht nur die letzten Sonnenstrahlen zu geniessen: «Von dieser Warte aus registrierten wir auch die Busenhaftigkeit unserer jungen Hübschen», erinnert sich ein Zeitgenosse. Ein Romans-
horner Knabe wurde um 1930 von seiner Mutter aus der Frauenabteilung der Seebadeanstalt gezerrt, sie deutete die Blicke ihres Sohnes richtig. Dieser hielt Jahre später fest: «Mich interessierten weniger die gewaltigen Ballone, die die Badekleider zu Beginn des Schwumms bildeten, als das, was es beim Verlassen des Wassers zu sehen gab, wenn die leintuchartigen Stoffe am Leibe klebten und durchscheinend geworden waren.»

Trend Strandbäder
Ab 1930 hiess der Trend «Ab ins Strandbad» – ganz im Sinne der Lebensreformbewegung, die Vegetarismus, FKK und Sport im Freien ohne Geschlechtertrennung predigte. Das war revolutionär, die bürgerliche Welt geriet arg ins Wanken und rief unweigerlich Behörden und Kirchen auf den Plan. Bald machten sich Verkehrs-, Verschönerungs- und Naturheilvereine sowie die Licht- und Luftfreunde für Strandbäder stark. «Das Einpferchen in einen geschlossenen Raum will man sich heute nicht mehr gefallen lassen», hiess es 1928.

Wo Behörden den Bau von Strandbädern verzögerten, eroberten sich Sommerfrischler freie Wiesen am See. «Der Zug der Zeit geht ins Strandbad, und wo keines besteht, wird das offene Ufergelände zum Strandbad gestempelt», meckerte der Kreuzlinger Gemeindeammann. Ein Gemeinderat spionierte abends das bunte Treiben der «Wegelagerer» aus und protokollierte: «Es ziehen sich einige Jungfrauen um, wobei sie den Blicken der ganzen Gesellschaft ausgesetzt sind ... Die Leute bemühen sich, möglichst wenig ihre Intimitäten zu zeigen, was doch auf Vorhandensein von Moral schliessen lässt. Immerhin ist eine gewisse Ungeniertheit zu konstatieren, wie man sie früher nicht gekannt hat, wie sie aber in allen Strandbädern üblich ist.»

Das Astloch-Phänomen
Wie ein roter Faden zieht sich das «Astloch-Phänomen» durch die Protokollbücher der Seegemeinden, als Beleg für die stets vorhandene, wenn auch unterdrückte Erotik. Überall erinnern sich – meist männliche – Badegäste an «zufällige» Astlöcher in den Holzwänden, die ebenso zufällig meist nur in den Frauenkabinen zu finden waren. Strandbädern eilte der Ruf voraus, ein Ort der Sittenverwahrlosung zu sein, wo Männer und Frauen sich halbnackt zur Schau stellen. Schlimmer noch: Sie galten mancherorts als Tummelplatz von Bi- und Homosexuellen. In Arbon setzte sich die katholischen Kirchenbehörde durch, die Stadt sicherte eine Hecke zwecks Geschlechtertrennung im neuen Strandbad zu – der Bau konnte beginnen.

Nirgends war der Streit um das getrennte Baden so heftig wie im Zürcher Strandbad Mythenquai. Prompt wurde er in der Sommerausgabe des Nebelspalters auf die Schippe genommen. Polizisten bewachten das Einhalten des geschlechtergetrennten Badens, eine Wand auf der Wiese und 200 Meter in den See hinein unterstützte sie dabei. Doch das «Volk» lehnte diese Disziplinierung ab und setzte sich durch – der Stadtrat entfernte den Bretterverschlag.

Eva BĂĽchi, kirchenbote-online

Die Autorin ist Historikerin und Gymnasiallehrerin in Kreuzlingen.

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