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«Die Frage nach Gott und dem Warum ist ein Aufschrei»

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02.08.2021
Im nordrhein-westfälischen Bad Münstereifel kämpfen die Menschen mit den Folgen der Überschwemmungen. Frank Raschke, Pfarrer der evangelischen Kirchgemeinde, erzählt, wie die Kirche hilft.

Herr Raschke, Bad Münstereifel, ein mittelalterliches Kleinod in Nordrhein-Westfahlen, hat es schlimm vom Hochwasser getroffen. Wie geht es den Menschen jetzt, rund zwei Wochen nach der Sturzflut, die sich durch den Ort gewälzt hat?
Die Leute sind nicht mehr so gestresst wie in den Tagen unmittelbar nach dem Ereignis. Mittlerweile gehen Psychologen und Seelsorger des Kriseninterventionsteams durch die Häuser und sprechen die Leute an, versuchen psychologische Soforthilfe anzubieten. Sie müssen sich viel Trauer anhören, die Leute fangen oft an zu weinen. In einer ersten, kontrollierten Phase konnten sie das nicht so. Jetzt erzählen sie, was sie erlebt oder gesehen haben. Etwa, dass sie einer Ertrinkenden nicht mehr helfen konnten.

Kommt auch die Frage nach Gott auf und weshalb er solches Unglück zulässt?
Ja, natürlich. Die theologische Antwort hier wäre Jesaja, Kapitel 55: «Meine Gedanken sind nicht Eure Gedanken und Eure Wege sind nicht meine Wege.» Doch im Moment bringt es überhaupt nichts, wenn ich theologisch salbadere. Ich bin nicht der, der Gott verteidigen muss, auch wenn mich das reizt. Die Frage nach Gott und dem Warum in der Not ist nichts anderes als ein Aufschrei, der soviel bedeutet wie: Hör mir zu, lass mich meine Gefühle aussprechen und nimm mich so in den Arm.

Die materiellen Schäden lassen sich grösstenteils beheben. Schlimmer sind die psychischen, deren Auswirkungen sich erst später zeigen werden. Was hilft den Leuten im Moment?
Die Menschen müssen ihrem Leid via Sprache Ausdruck verleihen können, dadurch haben sie Aha-Erlebnisse, verstehen plötzlich etwas. Zuhören hilft, manchmal die Hand auflegen und einen Segen sprechen. Die Menschen sind empfänglich für so etwas. Haben sie schlimme Dinge ansehen müssen und sind traumatisiert, dann ist es gut, wenn sie möglichst rasch wieder eigene Entscheidungen treffen können.

Können Sie das erklären?
Als die Flut kam, mussten die Leute hilflos zusehen, wie ihr Haus einfach weggeschwemmt wurde. Von heute auf morgen ist ihr Leben zerstört. Das konnten sie nicht beeinflussen. Bei den Aufräumarbeiten aber können sie den Helfern sagen, ob sie einen bestimmten Gegenstand wegtragen sollen oder nicht. Wieder über Dinge bestimmen können, ist enorm wichtig.

Wie hilft die Kirche?
Wir kennen die Leute ja und wissen, wer beispielsweise an unserem Bach, der Erft, wohnt. Dort gehen wir vorbei und schauen, was sie brauchen. Wir sammeln auch Geld und können es ihnen direkt geben. Zum Beispiel für eine Waschmaschine oder um eine Leitung zu legen. Wir haben unseren Gemeindesaal, der unversehrt geblieben ist, dem Kriseninterventionsteam zur Verfügung gestellt. Dort arbeiten Psychologen, Seelsorger, Feuerwehrleute und Gemeindeleute zusammen. Zwischen 11 und 16 Uhr sind wir Seelsorger vor Ort. Jeder kann vorbeikommen, der das möchte. Es ist aber auch schön zu sehen, wie andere helfen.

Können Sie Beispiele nennen?
Die Stadt hat in einem der Dörfer ein Materiallager eingerichtet, das sich schnell mit Hilfsgütern gefüllt hat. Die Leute können sich dort holen, was sie brauchen. Denn einige haben nicht mal mehr einen Stuhl, Tisch oder Teller. In einem anderen Ort kümmern sich Kinderpsychologinnen um traumatisierte Kinder. Fremde kommen vorbei, packen an, räumen auf, machen kaum Pause. Leider gibt es auch Plünderer. Das ist die unschöne Seite im Menschen, die eine Katastrophe auch zum Vorschein bringt. Doch insgesamt ist die Solidarität riesig.

Wo kommen die Einwohner unter, wie kommen sie zu Wasser, Essen?
Das Gute ist, dass Teile der Dörfer praktisch unversehrt geblieben sind. Also haben die Leute ihre Häuser geöffnet und andere Dorfbewohner aufgenommen. Einige wohnen in den oberen Stockwerken, die nicht überflutet wurden. Das Wasser in den noch intakten Leitungen darf derzeit im ganzen Kreis Euskirchen nicht getrunken werden, da es verschmutzt ist. Glücklicherweise wurden Frittenbuden aufgestellt, wo gekocht wird. Dort dürfen sich Dorfbewohner und Helferinnen kostenlos mit Essen und Getränken eindecken.

Haben die Leute Angst vor weiteren Unwettern oder Regenfällen?
Die meisten wollen gar nicht hören, dass es wieder regnen und deshalb zu weiteren Überschwemmungen kommen könnte. Sie wollen glauben, dass das ein Jahrhundertereignis war.

Sie haben bereits kurz nach den Überschwemmungen wieder Andachten durchgeführt und Gottesdienste gefeiert. Hatten die Leute überhaupt Bedarf an solchen Zusammenkünften?
An unserer ersten Andacht gleich nach der Katastrophe waren nur etwa neun Leute anwesend, doch die haben sich richtiggehend durch die Trümmer gekämpft. Nun kommen immer mehr. Diese Menschen suchen einen Raum, wo sie in Gemeinschaft Ruhe, Trost und ein Gebet finden können.

Haben die Menschen noch Hoffnung?
Die meisten schon. Doch es gibt auch einige, die depressiv sind. In einer ersten Phase waren sie stabil, kontrolliert, sie hatten viel zu tun. Doch jetzt macht sich Erschöpfung breit und die schlimmen Bilder gehen nicht mehr aus dem Kopf. Jede Person steht an einem anderen Punkt. Pauschal ist es deshalb schwierig, eine Aussage zu machen.

Nadja Ehrbar, reformiert.info

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