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«Die Bibel ist Wort Gottes, weil sie berührt»

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26.08.2021
Die Bibel ist eines der einflussreichsten und verbreitetsten Bücher der Menschheit. Bis heute prägt sie die Kultur. Die Theologin Christiane Tietz darüber, warum es sich lohnt, die Bibel zu lesen, und wie sie zum Wort Gottes wird.

Christiane Tietz, warum lohnt es sich, die Bibel zu lesen?
Die Bibel ist eines der vielfältigsten Bücher der Menschheitsgeschichte. Sie beschreibt alle Höhen und Tiefen des Lebens. Und dies vor dem Hintergrund, dass Gott mit uns durch diese Höhen und Tiefen geht.

Lohnt es sich auch für Nichtchristen, die Bibel zu lesen?
Natürlich, die biblischen Figuren gerade im Alten Testament sind äusserst spannend. Auch ist die westliche Kulturgeschichte ohne ihre Kenntnis nicht zu verstehen.

Eine einfache und doch schwierige Frage: Was ist die Bibel?
Ein menschliches Zeugnis davon, wie Gott den Menschen begegnet ist und zu ihnen gesprochen hat. Die Bibel ist ein menschliches Wort über Gottes Reden zum Menschen.

Die vorherrschende Methode, mit der heute biblische Texte betrachtet werden, ist die historisch-kritische. Was bringt sie?
Die historisch-kritische Methode hat den Vorteil, dass sie die Texte in ihrem Entstehungskontext und ihrem Adressatenkreis deutlich macht und erklärt. Das verhindert, dass wir die Texte vereinnahmen.

Sieht die historisch-kritische Methode die Bibel vor allem als historisches Buch?
Ja, sie führt dazu, dass zunächst der Abstand zu den Texten hergestellt wird. Die Texte richten sich an ganz bestimmte historische Adressaten. Macht man sich das bewusst, wird es auch für die Kirche schwieriger, Texte zu vereinnahmen.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?
In den Zehn Geboten heisst es: Du sollst nicht lügen. Im historischen Kontext geht es aber nicht um eine Lüge im moralischen Sinn, sondern um eine Falschaussage vor Gericht. Dieses Gebot betont, dass eine Gesellschaft nur funktioniert, wenn man vor Gericht die Wahrheit sagt. Ein anderes Beispiel: Neuere Exegesen haben deutlich gemacht, dass Adam primär nicht als Mann oder Frau geschaffen wurde, sondern als Mensch. Die Gottebenbildlichkeit bezieht sich nicht auf den Mann, sondern auf den Menschen. Eine Vormachtstellung des Mannes, die über Jahrhunderte auch in den Kirchen herrschte, kann man hieraus nicht ableiten.

Wo findet die historisch-kritische Methode ihre Grenzen?
Dort, wo sie behauptet, dass das, was historisch nicht belegt werden kann, Unfug sei. Weil wir beispielsweise nicht beweisen können, dass Jesus auferstanden ist, könne dies nicht sein. Wenn die historisch-kritische Methode behauptet, sie könne mit ihrer Sicht die Welt erschöpfend beschreiben, hat sie ihre Kompetenz deutlich überschritten.

Wie sieht dies bei der Auferstehung Christi aus?
Da gibt es unterschiedliche Ansätze. Überzeugt hat mich der Theologe Karl Barth, der erklärt hat: Die Auferstehung Jesu Christi ist das Zentrum des christlichen Glaubens, da Gott hier den Tod überwindet. Dieses Handeln Gottes kann ich methodisch mit historischer Forschung nicht erfassen, da Gott sich der inneren Weltwirklichkeit entzieht, wie Immanuel Kant schreibt. Es lässt sich nach Barth nur der «historische Rand» der Auferstehung feststellen, etwa dass Menschen erzählt haben, sie seien dem Auferstandenen begegnet. Aber das bleibt für die Forschung zweideutig. Die historische Forschung kann ziemlich viel, doch sie kann und will nicht feststellen, ob Gott hier gehandelt hat oder nicht.

Kann man Christ sein und nicht an die Auferstehung Christi glauben?
Für meinen Glauben ist es ganz wesentlich, dass ich an die Auferstehung glaube. Ich hoffe darauf, dass nicht die Weltwirklichkeit das letzte Wort hat und dass es eine Wirklichkeit Gottes gibt, in der Tränen abgewischt werden und Heilung geschieht. Wenn es die Auferstehung Jesu Christi nicht gibt, dann gibt es auch meine nicht. Das hängt ja zusammen. Wer nicht an die Auferstehung Christi glaubt, muss auch auf seine eigene verzichten.

Moderne Zeitgenossen bezweifeln oft, dass die Berichte der Bibel wahr sind.
Damit beschränkt man die biblische Wahrheit auf Tatsachenberichte. Man fragt: Ging Jesus von A nach B oder hat Moses das Meer geteilt? Die biblischen Texte sprechen von einer viel grundlegenderen Wahrheit. Theologen wie Rudolf Bultmann haben mythologische Elemente der Bibel existenziell interpretiert und danach gefragt, welche existentiellen Fragen hinter diesen Texten stehen. Etwa: wie werden wir frei, wenn wir an Gott glauben?

Spricht die Bibel von einer anderen Wirklichkeit als die Naturwissenschaften?
Wenn die Bibel erzählt, wie Jesus auf dem Wasser geht, dann beschreibt sie ja nicht, wie das möglich ist, sondern berichtet, wie Jesus gelebt hat und zu welchem Leben er uns einlädt. Wenn man sich bei der Frage aufhält, ob etwas wirklich geschehen ist oder nicht, verstellt dies den Blick auf das Eigentliche der Texte. Bultmann wollte, dass die Menschen, die nicht in der Antike leben und nicht an Engel und Dämonen glauben, trotzdem etwas mit den biblischen Texten anfangen können. Er hat die biblischen Wahrheiten neu freigelegt.

Biblische Texte sprechen also in unser Leben?
Ja, aber das fühlt sich nicht nur kuschelig an und tut nicht nur gut. Die Bibel kann uns mit ihren Anfragen herausfordern. Nur schon, wenn sie mich fragt, worauf ich mich in meinem Leben verlasse.

Stehen Naturwissenschaften und Bibel im Widerspruch?
Die Bibel ist kein naturwissenschaftliches Lehrbuch, auch wenn sie naturkundliche Einsichten der damaligen Zeit enthält. Bibel und Naturwissenschaften haben zwei verschiedene Perspektiven auf die Welt: Die Naturwissenschaften beschreiben die weltlichen Kausalzusammenhänge, die biblischen Texte gehen der Frage nach, wie ich mich in dieser Welt verstehe.

Was antworten Sie jemandem, der behauptet, das biblische Wort stamme von Gott, und er lehne die naturwissenschaftliche Erklärung der Entstehung der Erde ab?
Das ist schwierig. Ich würde ihn fragen, wie er dies meint. Glaubt er, dass Gott die Texte diktiert hat und diese deshalb irrtumslos sind? Ich hatte diesbezüglich ein Schlüsselerlebnis: Als ich im Studium zum ersten Mal den griechischen Urtext des Neuen Testamentes mit all den Fussnoten sah, realisierte ich, wie viele unterschiedliche Versionen der Verse es gibt, die sich nicht selten widersprechen.

Mit Verlaub: Die Bibel ist doch mehr als Menschenwerk. Wie kommt da Gott ins Spiel?
Karl Barth hat mir da sehr geholfen, wenn er erklärt: In Jesus von Nazareth spricht Gott von sich selber, alles andere, auch die Bibel, ist nur Zeugnis von diesem Reden Gottes von sich selbst. Wenn Menschen die Bibel lesen, machen sie die Erfahrung, dass die menschlichen Worte, die von Gott zeugen, sie ansprechen. Die Bibel ist Wort Gottes, weil Menschen davon existenziell berührt werden. So steht der biblische Text mir gegenüber als etwas, was mich ins Leben ruft, und nicht als Gesetzbuch, auf dem ich beharren kann.

Heute gibt es die verschiedensten Lesarten, angefangen bei der psychoanalytischen über die feministische bis zur befreiungstheologischen. Sind alle berechtigt?
Immer dann, wenn sie helfen, etwas von der biblischen Botschaft der Freiheit zu erfahren.

Welchen Ansatz finden Sie besonders lohnenswert?
Eugen Drewermanns Art, mit der Bibel umzugehen, spricht mich sehr an. Er versteht die Texte als persönliche Befreiungsgeschichten von Menschen.

Die Befreiungstheologie, welche die soziale Ungerechtigkeit vor dem Hintergrund der Bibel anprangert, hat in Westeuropa einen schwierigen Stand.
Ja, für viele im Westen ist dieser Ansatz, der auf soziale Gerechtigkeit pocht, zu provokativ.

Christiane Tietz, Sie sind nicht nur Theologieprofessorin, sondern auch Kirchgängerin. Kann die Predigt Glauben vermitteln?
Ich würde nicht vom Vermitteln des Glaubens reden. Es geht eher um eine Einladung zum Glauben und Leben mit Gott in seinen ganz unterschiedlichen Aspekten, seien sie individuell oder sozial.

Zum Schluss: Welches ist Ihre Lieblingsgestalt in der Bibel?
Besonders spannend finde ich den Kampf von Jakob am Jabbok im Alten Testament. Jakob ringt mit jemandem und erklärt: Ich lasse nicht ab von dir, es sei denn, du segnest mich. Später berichtet er, er habe da Gott ins Angesicht geschaut. Der Text ermutigt mich, mit Gott zu kämpfen und ihn auf sein Gutsein zu behaften.

Wie meinen Sie das?
Wir dürfen mit Gott ringen, ihn darauf behaften, dass er uns gezeigt hat, wie gut und treu er ist, und dass wir mehr von seiner lebensförderlichen Nähe haben möchten.

Welche Bibelstelle ist oder war für Ihr Leben wichtig?
Mein Konfirmationsspruch Psalm 27,1. «Der Herr ist mein Licht und mein Heil, vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist meines Lebens Kraft, vor wem sollte es mir grauen?» Es ist gar nicht so einfach, in dieser Haltung zu leben. Ich übe noch.

Interview: Tilmann Zuber, kirchenbote-online

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