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«Carte blanche» für eine Befürworterin und einen Gegner

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03.09.2021
Mit der «Ehe für alle» wollen Bundesrat und Parlament die Ungleichbehandlung beseitigen, denn die eingetragene Partnerschaft wird als nicht gleichwertig wie die Ehe empfunden.

Rund 700 gleichgeschlechtliche Paare lassen ihre Beziehung in der Schweiz jährlich mit einer eingetragenen Partnerschaft anerkennen. Diese ist der Ehe ähnlich, aber weder symbolisch noch rechtlich gleichgestellt. Rechtliche Unterschiede bestehen bei der Einbürgerung, der Adoption von Kindern und der Fortpflanzungsmedizin. Für manche gleichgeschlechtlichen Paare wäre es zudem symbolisch wichtig, heiraten zu können.

 

PRO

Liebe sei Liebe, unabhängig von der sexuellen Orientierung, sagt Kathrin Bolt. Für die reformierte Pfarrerin ist die Bibel wertvoll, aber in manchen Belangen veraltet.

Ich soll einen Artikel schreiben pro Ehe für alle. Ich zögere. Nein, nicht weil ich unsicher bin, ob Ehe für alle richtig oder falsch ist. Sondern weil ich mich frage: Müssen wir darüber ernsthaft noch diskutieren? Ist es nicht eine Selbstverständlichkeit, dass jegliche Paare, egal wie alt, wie hübsch, wie intelligent und wie geschlechtlich, zusammenleben und – wenn sie das möchten – heiraten dürfen?

«Aber in der Bibel steht doch, dass Mann und Frau zusammengehören und dass der Bund fürs Leben ein Geschenk Gottes ist, aus dem im besten Fall Kinder wachsen.» Wirklich? Mag sein. In der Bibel steht aber auch, dass der Mann das Oberhaupt der Frau ist und dass die Frau in der Gemeinde schweigen soll und sich die Haare nicht kurz schneiden darf (1Kor 11,2-6). Ich bin eine Frau. Pfarrerin. Mit kurzen Haaren. Und
lebe mit einem Mann gleichberechtigt zusammen. Und jetzt? Nehme ich die Bibel zu wenig ernst? Bin ich auf dem falschen Weg?

Die Bibel ist mir heilig. Sie ist ein Schatz aus Geschichten und Erfahrungen. Sie inspiriert mich, und ich habe grossen Respekt vor diesem Buch, weil es schon so lange auf der Welt ist und so viele Menschen begleitet (hat). Sie inspiriert mich – aber nicht nur. Sie bringt mich auch zum Lachen und Nachdenken und manchmal muss ich einfach nur den Kopf schütteln. Zum Beispiel, wenn ich im Buch der Sprüche lese: «Wie ein Ring im Rüssel einer Sau ist eine Frau, die schön, aber nicht tüchtig ist.» (Spr 11,22)

Ein wertvolles Buch, aber ein altes Buch
An vielen Stellen wird sichtbar, dass die Bibel nicht nur ein wertvolles, sondern auch ein altes Buch ist. Die Geschichten stammen aus anderen Zeiten. Mit den Menschen von damals verbinden uns viele Themen. Noch immer beschäftigen uns Leben und Tod und die Frage, wie wir unser Zusammenleben sinnvoll gestalten können.

Doch was uns unterscheidet von Jesus und seinen Jüngern und Jüngerinnen, sind 2000 Jahre Lebenserfahrung. Bei den Büchern des Ersten Testaments sind es noch einige Hundert mehr. Tausende von Jahren, in denen Menschen in unterschiedlichen Beziehungen zusammenlebten. Teilweise unter völlig anderen Bedingungen als wir heute. Und immer schon gab es Frauen, die sich zu Frauen hingezogen fühlten, und Männer, die sich zu Männern hingezogen fühlten. Das ist Realität. Und erst noch eine wunderbare!

So vielfältig hat Gott die Welt geschaffen, dass es Millionen von Baumsorten, Insektenarten, Pflanzen, Klängen und Düften gibt. Und ja, es gibt auch Millionen von Menschen. Nicht einfach Frauen und Männer. Nicht einfach Schwarze und Weisse, Reiche und Arme. Menschen sind und lieben unterschiedlich. Homo, hetero, bi, queer, trans, polyamourös … So manches an Lebensformen, Lust und Wünschen ist vielleicht noch gar nicht entdeckt worden.

Was die Bibel zur Liebe meint
Als Pfarrerin habe ich die schöne Aufgabe, Menschen in ihren besonderen Lebenslagen zu begleiten. Um den Segen zu bitten für ihren tiefen Wunsch, ein mit Liebe erfülltes Leben zu leben. Immer wieder bin ich gerührt, wenn zwei Personen einander vor Gott und ihren Liebsten versprechen, füreinander da zu sein, aufeinander achtzugeben und sich zu lieben und zu ehren, so gut sie es vermögen.

Ob und wie dies gelingt, kann ich nicht beeinflussen. Doch der Segen einer Partnerschaft hängt gewiss nicht von der Zusammensetzung des Geschlechts ab, sondern von der Frage, wie diese Liebe gelebt wird. Ob die Verbindung auf Augenhöhe, freiwillig und zum Wohle beider eingegangen worden ist. «Denn Gott ist die Liebe. Und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott. Und Gott in ihm oder in ihr.» (1Joh 4,16b)

Ich bin stolz darauf, dass die St. Galler Kantonalkirche seit mehr als 20 Jahren die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare ermöglicht und befürwortet. Und ich freue mich, wenn diese wichtige Gleichstellung auch auf zivilrechtlicher Ebene eingeführt wird.

Kathrin Bolt, Pfarrerin, St. Gallen Straubenzell

 

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KONTRA

Woran sollen sich Christinnen und Christen in ethischen Fragen orientieren? Am Zeugnis der Bibel, findet Lukas Zünd. Der reformierte Pfarrer und Filmemacher ist der Meinung, dass die Ehe nach biblischem Verständnis Paaren unterschiedlichen Geschlechts vorbehalten ist.

Dass eine Ehe auch aus zwei Menschen des gleichen Geschlechts bestehen kann, ist für viele Menschen der westlichen Kultur inzwischen selbstverständlich, ja, nicht mehr hinterfragbar. Zwei Möglichkeiten gibt es, wenn eine Generation so radikal bricht mit den überlieferten moralischen Standards: Entweder war die Menschheit wirklich gefangen in dumpfen Vorurteilen, bis endlich das Gewissen erwacht ist. Oder diese Generation selbst befindet sich nicht mehr im Wachzustand. Für beides gibt es Beispiele in der Geschichte. Auf der einen Seite: die Abschaffung der Sklaverei in Europa und Amerika. Auf der anderen Seite: die albtraumhafte Umgestaltung ganzer Gesellschaften durch kommunistische Ideologen. Wie, denken Sie, wird man einmal unsere Zeit beurteilen?

Gott hat gesprochen
Anders gefragt: Woher nehmen wir Gewissheiten in moralischen, ethischen Fragen? Für uns Christinnen und Christen ist entscheidend, wie Gott uns sieht und einmal beurteilen wird. Doch woher können wir das wissen? Weder bodenständige Intuition und Tradition noch aufgeklärte Vernunft und fortschrittliches Milieu – und auch nicht die Demokratie – bewahren uns davor, dass wir uns irren und von Gott unser eigenes Bild machen. Das Alte Testament ist ein Mahnmal davon, dass Israel wiederholt von Gott abgefallen ist. Die Elite hat den Treuebruch bestimmt jedes Mal als Fortschritt empfunden.

Allein Gott kann uns sagen, wie er uns sieht. «Gott selbst hat zu den Vätern, Propheten und Aposteln gesprochen und spricht auch jetzt noch zu uns durch die heiligen Schriften», hält das Zweite Helvetische Bekenntnis fest – eine der wichtigsten Zusammenfassungen des reformierten christlichen Glaubens. Natürlich braucht die Bibel Auslegung. Das Alte Testament wird vom Neuen Testament her interpretiert. Wissenschaftliche Exegese hilft, den Autor möglichst so zu lesen, wie er von seinen damaligen Hörern verstanden werden wollte.

Zur Ehe hat die Bibel viel zu sagen. Sie ist vom Schöpfer eingerichtet und hat in der gegenseitigen Ergänzung beider Geschlechter ihr Ziel, unter anderem in der fruchtbaren sexuellen Ergänzung. Homosexueller Geschlechtsverkehr wird im Alten und Neuen Testament unisono als Zielverfehlung (griechisch für «Sünde») gesehen. Der wichtigste Text findet sich im Römerbrief. Paulus nennt in Röm 1,26–27 die homosexuelle Leidenschaft an der Spitze einer Liste von Folgen, die der Treuebruch gegenüber Gott in der griechisch-römischen Kultur nach sich zog. Einige heutige Theologen wenden ein: Paulus hatte nur ausbeuterische homosexuelle Beziehungen vor Augen. Menschen, die nach modernem Verständnis homosexuell veranlagt sind und gleichgeschlechtlich lieben, liegen nicht in Reichweite dieses Bibelworts. Ich denke, hier ist der Wunsch Vater des Gedankens.

Was Jesus dazu sagte
Von Jesus selbst ist kein Wort überliefert zu homosexuellen Beziehungen. Der wahrscheinliche Grund: Er war mit dem Judentum seiner Zeiteinig in dessen ablehnender Haltung.Ja, wir alle sind Sünder, und am Tisch des Herrn Jesus haben gerade die Sünder Platz. Aber das Evangelium bedeutet auch: «Sündige von jetzt an nicht mehr!» (Joh 8,11)

Ich schreibe diese Zeilen nicht in der Hoffnung, die Ehe für alle könne noch verhindert werden. Ich schreibe, weil auch nach dem 26. September 2021 noch Christinnen und Christen da sein werden, welche nicht anders können, als diese Unterscheidung zu machen. Wie lange werden sie sich noch öffentlich äussern dürfen? Wird die neue Gewissensnot von Pfarrpersonen, christlichen Hoteliers und Standesbeamten überhaupt noch ins Gewicht fallen?

Lukas Zünd, Pfarrer, Bäretswil ZH

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