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Das Geheimnis der Welt

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01.10.2021
Für Eberhard Jüngel war Gott das Geheimnis der Welt, über das man sprechen sollte. Das hat der Theologe sein Leben lang getan und andere begeistert. Am 28. September 2021 ist Eberhard Jüngel in Tübingen gestorben.

Christiane Tietz

Dass man über Gott, das Geheimnis der Welt, sprechen kann und als Theologe sprechen muss, weil Gott sich selbst zur Sprache gebracht hat, davon war Eberhard Jüngel überzeugt und dafür stritt er. Von 1966 bis 1969 lehrte er als Ordinarius für Systematische Theologie und Dogmengeschichte an unserer Fakultät und leitete das Institut für Hermeneutik. Obwohl er sich scheute, von «seiner Theologie» zu sprechen, hat er mit ihr Generationen von Pfarrpersonen geprägt und weit über den theologischen Raum hinaus Menschen für Theologie begeistert. Seine glasklar argumentierenden Vorträge bei Akademien, Tagungen und Kirchgemeinden waren literarische Kunstwerke. Dass Theologie ein kritisches Gegenüber zur Kirche ist und in ökumenischer Verantwortung zu geschehen hat, betrachtete er als selbstverständlich. Erinnert sei an seine Beiträge zur Debatte um die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre zwischen Lutheranern und Katholiken wie auch an seinen epochalen Vortrag zu Mission und Evangelisation auf der EKD-Synode 1999, der er drei Jahrzehnte als berufenes Mitglied angehörte. Der ordinierte Theologe war ein begnadeter Prediger. 

Eberhard Jüngel wurde am 5. Dezember 1934 in Magdeburg geboren. Zum Theologiestudium entschloss er sich, weil er die evangelische Kirche als den einzigen Ort in der DDR erlebte, «an dem man ungestraft die Wahrheit hören und sagen konnte». Er studierte an den Kirchlichen Hochschulen in Naumburg und Berlin/Ost (wo ihn Ernst Fuchs und Heinrich Vogel prägten) und an den Universitäten Zürich (primär bei Gerhard Ebeling) sowie Basel (vor allem bei Karl Barth) und pendelte nach Freiburg (zu Martin Heidegger). Von Barth lernte er, Gott vom Ereignis seines Zur-Welt- Kommens her zu denken, von Ebeling das gründliche Lesen Martin Luthers. Nach einer Promotion über «Paulus und Jesus» unterrichtete er ab 1961 Neues Testament, später Dogmatik in Ostberlin. 1966 wechselte er nach Zürich. Seit 1969 war er Ordinarius für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen, der er trotz mehrerer Rufe bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2003 treu blieb. In dieser Zeit leitete er als Ephorus das Tübinger Evangelische Stift. Von den zahllosen Ehrungen, die ihm zuteilwurden, waren ihm die Ämter als Kanzler des Ordens pour le mérite und als Ehrendomprediger des Berliner Domes die wichtigsten. 

Wer das Glück hatte, bei ihm studieren zu dürfen – und das waren viele (in seinen Vorlesungen sassen oft an die tausend Hörer, in seinen Seminaren mehr als hundert) –, war hingerissen von seinem messerscharfen Verstand, seinem schelmischen Humor, den weiten gedanklichen Spannungsbögen und von seiner Kunst, die Autoren solange wie möglich erst einmal selbst zu Wort kommen zu lassen – und erst sehr spät, dann aber umso deutlicher die eigene Kritik anzubringen. Bei diesem umfassend gebildeten Gelehrten lernte man, dass der Glaube sich selbst und Gott verstehen will und dass ein solches Denken des Glaubens «pünktlich» zu geschehen hat. Und man lernte, dass Theologie existentielle Relevanz hat. Dass die evangelische Rechtfertigungslehre eine Person von ihren Taten und Untaten unterscheidet, dass auch das erbärmlichste Sterben die Würde eines Menschen nicht beschädigt, dass das Jüngste Gericht als Akt der Gnade gedacht werden muss, dies waren Überzeugungen, die Jüngel ethisch wie seelsorgerlich geltend zu machen wusste. 

An der Zürcher Fakultät lehrten wichtige Schüler Eberhard Jüngels wie Ingolf U. Dalferth und Johannes Fischer. Auch ich bin seine Schülerin. Wir trauern darum, dass dieser leidenschaftliche Denker am 28. September 2021 in Tübingen gestorben ist. 

Prof. Dr. Christiane Tietz, Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie an der Theologischen Fakultät Zürich 

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