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«Demenz ist noch immer ein Tabuthema»

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10.11.2021
Altersforscherin Heike Bischoff-Ferrari über Einsamkeit als Risikofaktor, die Macht von Erinnerungen und die Kirche als mögliche Ersatzgemeinschaft von Demenzerkrankten.

Die Kirchgemeinde der Stadt Zürich hat neuerdings ein Demenzzentrum, bietet unter anderem Sing- und Tanz-Treffs für Erkrankte an, Vorträge und Gesprächskreise für Angehörige. Welche Angebote jenseits der Medizin sind für Demenzerkrankte sinnvoll? 
Grundsätzlich braucht es Angebote, die Menschen mit Demenz helfen, weiterhin am öffentlichen Leben und an der Gemeinschaft teilzunehmen. Und dann geht es auch immer darum, Angehörige zu unterstützen, denn sie tragen eine enorme Last. Das Demenzzentrum der Kirchgemeinde Zürich erfüllt beide Kriterien, deshalb ist das ein sehr sinnvolles Angebot. 

Gibt es nicht schon genug Anbieter in dem Bereich, die vielleicht mehr Ahnung vom Thema haben?
Eben nicht. In der alternden Gesellschaft werden ja in Zukunft noch mehr Menschen betroffen sein. Wir wissen, dass es jeden 10. Menschen zwischen 70 und 80 Jahren und jeden dritten im Alter von über 90 Jahren treffen kann. Die Medizin bietet zwar Diagnostik und spezielle Beratung an. In den Spezialsprechstunden der Universitären Altersmedizin am Universitätsspital oder der Memory Clinic am Stadtspital Zürich Waid, geht es zudem um begleitende Therapie-Massnahmen, Empfehlung von technischen Hilfsmitteln oder den Miteinbezug der Spitex. Aber Programme, die darauf abzielen, Einsamkeit und Isolation vorzubeugen und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu erhalten, gibt es viel zu wenig. Dabei ist gerade das beim Thema Demenz ganz entscheidend. 

Inwiefern?
Einsamkeit und Isolation bereiten Stress und dieser wiederum schadet den Nervenzellen. Andererseits stimuliert jedes Gespräch, jede Interaktion das Gehirn. Dass Menschen möglichst lange Teil der Gesellschaft bleiben ist für die Prävention matchentscheidend, wie wir heute wissen. Aktivitäten wie Tanzen und Singen, wie sie auch im Demenzzentrum der Kirche angeboten werden, sind besonders wertvoll. 

Warum?
Bekannte Lieder lösen Erinnerungen aus. Das Lernen neuer Lieder wiederum stimuliert das Gehirn, genauso wie Gedächtnistraining. Schrittfolgen beim Tanzen machen das auch, hinzukommt, dass die Bewegung das Risiko von Stürzen im Alltag verringert. Und schlussendlich: Wir wissen, dass Musik glücklich macht, und Stress reduziert.

Sie sprachen die Unterstützung von Angehörigen an. Ist das bei der Demenz wichtiger als bei anderen Krankheiten?
In der Altersmedizin werden die Angehörigen immer miteinbezogen und ganz besonders wenn unsere Patientinnen oder Patienten eine Demenz haben. Der Partner, die Kinder leisten immens viel. Erst in Gesprächen mit uns, etwa im Rahmen eines stationären Aufenthalts des Erkrankten kommt das oft heraus. Viele sind erschöpft, können kaum mehr. Bei der Demenz ist das besonders ausgeprägt, da gibt es nie eine Pause für die Angehörigen. Sie sind rund um die Uhr im Einsatz. Irgendwann verlassen manche selbst kaum mehr das Haus. Die Hürden, Hilfe zu holen sind vielleicht auch höher, weil die Krankheit verdrängt oder versteckt wird. Auch deshalb ist das Angebot der Kirche wertvoll. Es bringt das Thema ins Bewusstsein der Kirchgemeinde, strahlt vielleicht gar darüber hinaus. Demenz ist ein gesellschaftliches Problem, das wir auch gesamtgesellschaftlich lösen müssen.

Ist das Thema Demenz angesichts der hohen Zahlen Betroffener nicht längst in der Gesellschaft angekommen?
Ja, die Demenz ist angekommen in der Gesellschaft aber dennoch ein Tabuthema. Oft scheuen Angehörige davor zurück, das Thema gegenüber Betroffenen anzusprechen. Die Erkrankten versuchen es auch so lange wie möglich zu kaschieren und Angehörige haben oft Angst den liebsten Menschen zu verlieren, wenn sie sagen, dass sie Hilfe brauchen. Deswegen passiert es auch häufig, dass wir Patienten erst in relativ fortgeschrittenem Stadium sehen. Das ist schade, denn bei der Demenz steht die Prävention im Vordergrund. Es gibt ja nach wie vor kein Medikament, dass eine fortgeschrittene Demenz heilen kann. 

Wie lässt sich Demenz denn vorbeugen?
Es gibt sechs Empfehlungen zur Prävention, die wissenschaftlich belegt sind. Schlaf ist wichtig, er hilft dem Gehirn, sich zu erholen. Stress reduzieren ist wichtig, etwa durch zehn Minuten Mindfullnesstraining oder Meditation, oder einen Spaziergang in der Natur. Interaktion mit anderen Menschen und Bewegung. Etwas Neues Lernen und schlussendlich eine gesunde Ernährung. Zentral ist die Mittelmeerdiät, erweitert durch Nüsse und Beeren. 

Angesichts der Tatsache, dass die Kirche demografisch altert, hat sie ja fast schon eine Verpflichtung gegenüber ihren Mitgliedern, sich für Senioren stark zu machen.
Sie kann auch Jung und Alt zusammenbringen. Gottesdienstbesuche dürften bei regelmässigen Kirchgängern, die nun unter Demenz leiden, Erinnerungen auslösen, wenn etwa bekannte Lieder gesungen werden. Die Kirche könnte für manche Betroffene auch eine Ersatzgemeinschaft bilden. Denn heutzutage sind die Kinder oft weit weg, der Partner vielleicht schon verstorben. Und je früher Demenzkranke Menschen an einer derartig positiven und unterstützenden Gemeinschaft teilnehmen können, desto besser.

Cornelia Krause, reformiert.info

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