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«Man soll die Menschen an ihren Talenten messen»

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25.11.2021
Der Heilpädagogische Religionsunterricht (HRU) im Kanton Solothurn leistet einen wichtigen Beitrag zur Integration von Kindern und Jugendlichen mit einem Handicap.

«Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name.» Kräftig und selbstbewusst tönt das Gebet durch die leere Kirche St. Johannes. Jasmin, die im Rollstuhl sitzt, spricht begeistert all die Worte, die sie besonders gut kann und die ihr gefallen. Der gross gewachsene Fabian betont jedes einzelne Wort, andere nuscheln oder schweigen. «Die acht Jugendlichen, die mit ihrer Katechetin und einer Klassenassistenz die Kirche besuchen, hauchen dem vertrauten Gebet einen völlig neuen Rhythmus ein», schreibt das Kirchenblatt «Horizonte».

Karin Schmitz kennt solche Lek tionen gut. Seit drei Jahren leitet sie die Fachstelle Heilpädagogogischer Religionsunterricht im Kanton Solothurn. Sie berät und begleitet die 15 Katechetinnen und Katecheten, die mit einer zusätzlichen Qualifikation angestellt sind. Insgesamt bieten 12 Institutionen diese religiöse Bildung an. Schmitz’ Anstellung entspricht der komplizierten Kirchenstruktur des Kantons Solothurn. Ihre Arbeitgeber sind die Kantonalkirchen und die Bezirkssynoden. «Doch es klappt», sagt Schmitz. «Die Kirchen sind im Religionsunterricht ökumenisch unterwegs.»

«Das Angebot kommt an»
Im Kanton Solothurn besuchen rund hundert geistig und körperlich beeinträchtigte Kinder und Jugendliche den heilpädagogischen Unterricht. Viele leben die Woche über in einem Heim. Abmeldungen von Seiten der Eltern gibt es kaum. «Das Angebot kommt an», sagt Karin Schmitz.

Lehrplan. Manche Gruppen zählen bis zu zehn Kinder, manche nur vier. In besonderen Fällen braucht es für fünf Kinder fünf verschiedene Programme, da diese so unterschiedliche Bedürfnisse und Talente besitzen. In schwierigen Situationen kommt auf ein Kind eine Betreuungsperson. «Die Kinder sind dankbar, wenn sie spüren, dass andere offen sind und es mit ihnen gut meinen», sagt Karin Schmitz. «Aber sie wollen auch angeregt werden, etwas leisten und ein ehrliches Feedback. ‹Du kannst das sicher noch etwas schöner ausmalen› ist auch ein Zeichen der Wertschätzung.»

Schmitz stellt fest, dass die Anzahl der Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten in der Schule zunimmt. «Es ist schwieriger geworden, Kinder zu erziehen », stellt sie fest. Das habe verschiedene Ursachen, sicher auch, dass heute viele kleine Prinzessinnen und Prinzen seien. «Auch früher gab es Zappelphilippe und grosse Schweiger, man sagte: ‹Das wird sich auswachsen›, und liess sie im Klassenzug. Heute erhalten diese Kinder schon bald einmal eine Diagnose.»

Zelt und Gehörschutz
Schmitz reist von Klassenzimmer zu Klassenzimmer, auch im Regelunterricht und in den Pfarreien und Kirchgemeinden. Sie unterstützt die Katechetinnen bei der Arbeit. Manchmal können sich Kinder etwa mit einer ADHS- oder einer ASS-Diagnose nicht zusammenreissen. Da ist es wichtig, dass man eingreift und die Betroffenen aus der Mitte nimmt, sodass sie nicht mehr den Unterricht stören. Konkret bedeutet dies: Sie dürfen sich in die Leseecke oder in ein Zelt zurückziehen, um sich zu beruhigen. Manchmal hilft ein Gehörschutz gegen die Geräusche und die Überreizung. Die Katechetinnen sind dankbar für solche Hinweise. Die Arbeit mit behinderten Menschen sei eine echte Berufung und verlange viel Herzblut für die Kinder und eine besondere Liebe zu den Menschen, meint Karin Schmitz. «Man muss die Menschen nicht nur an den Defiziten messen, sondern vor allem an ihren Talenten», sagt Schmitz. Diese Aussage erhalte im Heilpädagogischen Religionsunterricht eine besondere Bedeutung.

Bereicherung für alle
Manchmal fädelt Schmitz Sonderlösungen ein, wenn sich eine behinderte Jugendliche konfirmieren lassen will. Schmitz nimmt den Kontakt mit der Pfarrerin auf. Im ersten Moment erklärte diese, das gebe Probleme. Karin Schmitz überzeugt sie vom Gegenteil, und das Mädchen wird ohne Schwierigkeiten konfirmiert. Im Nachhinein erklärten die Konfirmandinnen und Konfirmanden, der Unterricht sei für sie zu einer Bereicherung geworden. Für Schmitz steht dies als Bild für eine Kirche, die Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, einschliesst: «Wer setzt sich denn für die Jugendlichen und Kinder mit einem Handicap ein, wenn nicht die Kirche?»

Tilmann Zuber

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