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«Vielleicht ist das Geschehene unentschuldbar»

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09.12.2021
Sexualisierte Gewalt kommt auch – und ganz besonders – in den Kirchen vor. Der Theologe Mathias Wirth übt als Mitautor eines neuen Buches zum Thema scharfe Kritik.

Mathias Wirth, warum ist Ihnen als Ethiker das Thema «sexualisierte Gewalt» so wichtig?
Weil die Ethik hinschauen muss, wo Menschen besonderes verletzlich sind, und dorthin, wo Leben gefährdet ist. Wenn ein Kind nach sexualisierter Gewalt durch Kirchenmitarbeitende traumatisiert ist und bis ans Ende seiner Tage unter den Folgen leidet, dürfen wir als Ethiker und natürlich auch als Gesellschaft nicht wegschauen oder das Geschehene banalisieren. 

Vor einigen Jahren waren sie als junger Lehrer direkt mit Fällen sexualisierter Gewalt an Ihrer Schule konfrontiert.
Ja, ich war Vertrauenslehrer an einem katholischen Gymnasium. Schüler berichteten mir von zwei Patres und Lehrern, die Schülern rektal Medikamente verabreichten. Bis heute bin ich der Auffassung, dass es sich dabei und in diesem Setting um eine relativ klassische Form von sexualisierter Gewalt handelte. Man nutzt den Schutz der Zweideutigkeit und verschafft sich mit einem Medikament Zugang zu Körperöffnungen. Der Fall schien mir damals ebenso klar, und ich war überzeugt, dass die Lehrer umgehend aus dem Dienst entfernt würden, damit die Schüler geschützt wären. Doch das geschah nicht, zumindest nicht umgehend und umfassend, denn einer der Patres ist bis zum heutigen Tag dort. Ich war schockiert, dass der Schutz der Kinder nicht oberste Priorität hatte. Und ich musste erkennen, dass man sich selbst im Raum der Kirche, die ja auch eine Moralgemeinschaft ist, nicht einig war, wo die Grenzen des Akzeptablen liegen.

Die katholische Kirche macht seit Jahren mit sexuellen Übergriffen Schlagzeilen. Kommt das in anderen Religionen ebenso häufig vor?
Es gibt keinen Grund zu Annahme, dass es nicht in allen Religionen sexualisierte Gewalt geben sollte, wie sie auch in anderen sozialen Nahräumen, in der Familie, im Sport, der Kultur und im Bereich Bildung vorkommt. Spezifisch ist mit Blick auf alle Religionen, dass darin einzelne Personen den Anspruch erheben können, eine Gottheit auf die eine oder andere Weise zu repräsentieren oder Kenntnis über ihren Willen zu haben. In ihren Communities sind solche Personen dann unantastbar und können Gewalt leicht ausagieren. Trotzdem muss man feststellen, dass das Christentum – und hier nicht alleine, aber doch besonders die katholische Kirche – zusätzlich mit Patriarchalismus, dem ausgeprägten Machtgefälle und spezifischen Strukturen wie dem Zölibat Gelegenheiten bietet, sexualisierte Gewalt oft lange unerkannt auszuführen.

Wie meinen Sie das?
Der Zölibat, also das Versprechen ehelos und keusch zu leben, prägt das Bild von asexuellen Priestern. Das macht es schwierig, sexualisierte Gewalt im kirchlichen Kontext überhaupt mit diesen Personen in Verbindung zu bringen. Sowohl für die «Opfer» als auch für ihr Umfeld.

Meist ist der Schock und die Empörung gross, wenn sexualisierte Gewalt aufgedeckt wird. Warum ist es besonders schockierend, wenn es im kirchlichen Umfeld passiert?
Weil die Kirchen gemäss ihren Urkunden in ganz besonderem Mass die Verletzlichkeit der Person reflektieren und Schutzräume fordern und bieten. Es ist sozusagen ihr Kerngeschäft. Und wenn dieses spezifische Vertrauensverhältnis ausgenutzt und missbraucht wird, empfinden wir das absolut verständlich als schweren Bruch.

Sie sprechen explizit von sexualisierter Gewalt. Warum?
Weil der Begriff deutlich macht, dass es weniger um sexuelle Handlungen geht, als vielmehr um Gewalt. Auch deckt er ein breites Spektrum von Handlungen und Ereignissen ab. Er soll auch helfen, die Struktur überhaupt erst zu erkennen und benennen, die sexualisierte Gewalt möglich macht.

Nach dem Bekanntwerden von Missbrauchsfällen folgt häufig eine öffentliche Entschuldigung. Vertreter der Institution betonen, dass sie die Verantwortung übernähmen und die Angelegenheit aufarbeiten würden. Ist das der richtige Weg?
Leider geht es bei diesem Ritual der Entschuldigung mehr darum, den Ruf der Institution zu retten, was in der Regel aber weder gelingt noch gelingen kann. Das liegt daran, dass nicht der hinsteht, der die Taten verübt hat, sondern ein Stellvertreter. Der echte Täter, die echte Täterin existiert so vermeintlich nicht – und dann, wenn man das weiterdenkt, verschwindet auch die Tat selbst. Generell stellt das christliche Ethos des Verzeihens, das sowohl bei den Katholiken als auch im Protestantismus eine wichtige Rolle spielt, eine ambivalente Grundstruktur dar. Es fordert zum Beispiel von Opfern, die Entschuldigung anzunehmen. Doch vielleicht ist das Geschehene, gerade im Fall von sexualisierter Gewalt, menschlicherseits unentschuldbar.

Was wäre stattdessen zu tun?
Wichtig ist, das Entsetzen, den Schmerz über die Ereignisse auszudrücken. Nicht gleich um Verzeihung zu bitten, sondern die skizzierte banalisierende Grundhaltung abzulegen, die letztlich selbst Gewalt darstellt und so begünstigt. «Das Theater des Pardon», wie es der Philosoph Jacques Derrida nannte, ändert nichts an den toxischen Strukturen, den theologischen Grundannahmen und dem etablierten Habitus in den Kirchen, die ein Klima schaffen, in dem sexualisierte Gewalt zum Teil exzesshaft praktiziert wurde, wie die historische Erfahrung zeigt.

Welchen Beitrag leisten Sie mit Ihrem Buch?
Wir wollen einen ersten Schritt gehen und zeigen, wie die vielfach erhobene Forderung, besonders von Betroffenen sexualisierter Gewalt in Kirchen, nach grundsätzlichen Reformen aussehen könnte. Wir schauen uns daher theologische Zusammenhänge an, wie den oben genannten über einen latenten Imperativ zum Verzeihen, die bisher wenig bis gar nicht als Bedingungen angeschaut werden, die sexualisierte Gewalt ermöglichen.

Katharina Kilchenmann, reformiert.info

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