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«Die Kirche ging nicht auf Tauchstation»

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20.01.2022
Der Theologe Thomas Schlag hat die digitale Präsenz der Kirche im Lockdown untersucht. Er stellt ihr ein gutes Zeugnis aus, warnt aber vor der «Rückkehr in die Komfortzone».

Thomas Schlag, in Ihrer Studie «Contoc» (Churches Online in Times of Corona) haben Sie Pfarrpersonen in verschiedenen Ländern zu ihren Erfahrungen mit digitalen Angeboten während der ersten Welle und dem Lockdown befragt. Was waren für Sie die spannendsten Erkenntnisse?
Es hat mich überrascht, mit welch positiver Haltung und Kreativität die Pfarrpersonen mit Blick auf die neuen Herausforderungen durchgestartet sind. In der Studie haben beispielsweise 95 Prozent der Befragten angegeben, vorher gar keine eigenen digitalen Gottesdienste angeboten zu haben. Dennoch war das dann ein Format, das sehr weit verbreitet war. In der Schweiz liessen sich fast 60 Prozent der Pfarrpersonen, die an der Studie teilgenommen haben, darauf ein. Es gab die Bereitschaft, sich positiv mit den digitalen Herausforderungen auseinanderzusetzen und bereits bestehende Fähigkeiten und technische Möglichkeiten zu nutzen. Die Einschätzung, die Kirche sei nicht mehr präsent gewesen in der Krise, hat sich überhaupt nicht bewahrheitet.

Sie sagen, es wurde viel experimentiert. Wie kreativ waren die Angebote?
Digitale Gottesdienstformate waren sehr verbreitet. Aber es gab auch neue Formen, etwa Andachten, geistliche Impulse, Worte zum Tag, die digital umgesetzt wurden. In der Schweiz haben mehr als die Hälfte der befragten Pfarrpersonen damit experimentiert. Der Sonntagsgottesdienst war also nicht die einzige Form der digitalen Angebote.

Das digitale Abendmahl hat sich kaum durchgesetzt.
Ja, wobei in der Schweiz wurde weniger kontrovers darüber diskutiert als etwa in Deutschland. 14 Prozent der Schweizer evangelischen Befragten probierten das aus, in Deutschland waren es unter den evangelischen Pfarrpersonen nur 5 Prozent.

Haben Sie selbst an einem solchen Abendmahl teilgenommen?
Ja, an Pfingsten 2020 gab es einen schweizweiten Online-Gottesdienst, der auch eine Abendmahlsequenz beinhaltete. Daran habe ich teilgenommen und nach den, wenn man so sagen will, Regieanweisungen den Tisch, das Brot, den Wein vorbereitet.

Wie haben Sie das erlebt?
Ich fand es sehr berührend, zu sehen, was sich für eine Gemeinschaft einstellt, wenn Menschen aus verschiedensten Orten denselben feierlichen Akt vollziehen. Dennoch empfinde ich es nicht als einen Ersatz für das Abendmahl in einer Kirche mit einer Gemeinschaft vor Ort. Es war eine Alternative in dem Moment. Es stellt sich aber die Frage, ob das nicht – wenn es das einzige Angebot bliebe – am Ende die Individualisierung der eigenen religiösen Praxis vorantreibt. Das wäre die Kehrseite des Ganzen. 

Wie meinen Sie das?
Im schlimmsten Fall könnte das dazu führen, dass jeder für sich kirchliche Rituale auf dem Sofa feiert. Damit bricht nicht nur Körperlichkeit weg, sondern auch eine wechselseitige gemeinsame Wahrnehmung. Sei es im Feiern, beim Beten, Singen oder im Wahrnehmen einer bestimmten Atmosphäre. Kirchliche Kultur lebt nicht nur von der persönlichen Begegnung, sondern von der leiblichen Gegenwart, der Wahrnehmung des anderen und diesem sehr speziellen Resonanzraum Kirche. 

Da geht es um ekklesiologische Fragen, um Fragen des Verständnisses von Kirche?
Um anthropologische und ekklesiologische Fragen. Als Menschen spüren und erfahren wir immer auch die Atmosphären und Räume in denen wir uns befinden. Es entstehen Resonanzen. Da stellt sich die Frage, welche Begegnungskultur braucht es, damit wir von einer kirchlichen Gemeinschaft sprechen? Was brauchen wir als Menschen? Und was macht für uns eine gelingende kirchliche Gemeinschaft aus? 

Lässt sich Nähe per Zoom herstellen?
Es macht keinen Sinn analog und digital gegeneinander auszuspielen. In unserer Studie wurde deutlich, dass die digitalen Varianten das analoge Angebot nicht ersetzen, aber eine wertvolle Ergänzung sein können. Es braucht eine Balance, ein Angebot aus beidem. Das ist die Frage, mit der sich Kirchgemeinden in Zukunft befassen müssen. Derzeit sind die Gemeinden noch im Notfallmodus, können noch gar nicht recht nach vorne schauen. Es gibt durchaus Formen und Möglichkeiten zu zeigen, wir sind auch im Netz mit unterschiedlichen Möglichkeiten präsent. Etwa für diejenigen, die vielleicht nur mal etwas anklicken, oder in einen Chatraum gehen wollen, nicht aber eine Kirche oder ein Gemeindehaus betreten.

Hat die Pandemie der Digitalisierung der Kirche nachhaltig Schub gegeben, oder kehren wir wieder zu Altbekanntem zurück?
Darüber erhoffen wir uns Aufschluss in einer zweiten CONTOC-Befragung, die im Frühsommer 2022 starten wird. Es ist schon meine Befürchtung, dass wir wieder in den vermeintlichen Urzustand zurückkehren. Zum Zeitpunkt der ersten Befragung schätzten Pfarrpersonen die Chancen der digitalen Angebote höher ein als die Risiken. 35 Prozent der Schweizer Befragten gaben an, dass sie zukünftig mehr alternative Gottesdienstformen des gemeinschaftlichen Feierns und Betens anbieten wollen. Es herrschte fast schon eine gewisse Euphorie, man glaubte, mit digitalen Angeboten mehr Menschen erreichen zu können, nicht nur die eigene Gemeinde, sondern auch neues Publikum. Doch in Gesprächen derzeit spüre ich gewisse Ermüdungstendenzen. So wie wir sie eben alle auch aus anderen Lebensbereichen kennen. 

Zu den Präsenzgottesdiensten ging man sehr schnell zurück. Welche digitalen Formate könnten bleiben? 
Der Aufwand für einen guten Online-Gottesdienst ist sehr hoch. Es ist wohl kaum realistisch, dass Kirchgemeinden jeden Gottesdienst in Fernsehqualität streamen. Aber grundsätzlich hat sich die Wahrnehmung geändert. Digitale Varianten werden nicht mehr von vorneherein als unmöglich abgetan. Etwa das Zuschalten von Angehörigen aus anderen Ländern zu Beerdigungen oder Kasualgesprächen. Das ist ein Gewinn und ich würde Pfarrpersonen Mut machen, diese Chancen zu nutzen. Warum nicht einen brasilianischen Pfarrer in die Konfirmationsarbeit zuschalten, der über die Situation in den Favelas berichtet? Auch das ist eine Chance. Oder über Twitter, Instagram oder Youtube kurze, prägnante Botschaften senden. Denn die Wahrnehmung von Kirche läuft heutzutage weniger über den Gemeindebrief als über soziale Medien.

In einer deutschen Publikation ziehen Sie mit Blick auf die Digitalisierung der Kirche Analogien zur Reformation. Wie ist das zu verstehen?
Die Reformation wurde unter anderem durch neue Medien, sprich den Buchdruck ermöglicht. Damit kam es nicht nur zu einer starken Verbreitung der neuen Gedanken, sondern es wurden auch ganz neue Informations- und Austauschmöglichkeiten geschaffen. Plötzlich sagten nicht mehr nur einzelne wenige Autoritäten, was zu lesen und zu glauben ist. Sondern es breitete sich sozusagen eine Beteiligungs- und Mündigkeitskultur aus, die den Boden für die reformatorische Wende bereitete. Nun kann man sich fragen, ob der digitale Wandel nicht auch Partizipation und die Mündigkeit verstärkt. Wir haben soziale Netzwerke, in denen sich Menschen mit religiösen Fragen und Glaubensfragen beschäftigen, wir haben globalen Zugang zu Menschen, die ihre eigene Theologie betreiben und spirituelle Angebote machen. Das Netz ist voller Predigerinnen und Prediger, die oftmals ganz ohne institutionelle Autorität agieren.

Die Kirchen drohen abgehängt zu werden?
Ob es zukünftig stärker in eine freikirchliche Richtung geht oder sich die Leute beispielsweise irgendeinen Prediger aus den USA suchen, das lässt sich noch nicht sagen. Gerade deshalb ist es entscheidend, dass auch unsere Pfarrpersonen in Zukunft die Möglichkeiten digitalen Präsenz nutzen.

Wie offen sind Pfarrpersonen und Kirchgemeinden dafür?
Vor allem die eigene aktive Nutzung sozialer Medien ist vielen noch fremd und erscheint wie eine hohe Wand, von der sie nicht wissen, wie sie zu erklimmen ist. Aber ich warne davor, in die nicht-digitale Komfortzone zurückzukehren. Vielmehr braucht es Weiterbildung, nicht nur mit Blick auf die Technik, sondern auch zu theologischen Fragen. Etwa, was bedeutet leibliche Gemeinschaft in digitalen Zeiten, wie steht es um Seelsorge und Datenschutz? Wen wollen wir eigentlich ansprechen? In all diesen Fragen müssen auch die Landeskirchen für Haupt- und Ehrenamtliche viel mehr Unterstützung leisten als bisher.

Interview: Cornelia Krause, reformiert.info

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