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«Musik weckt Hoffnung und Zuversicht»

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22.02.2022
Die Musik-Spitex organisiert persönliche Konzerte in Wohnzimmern. Hinter der Idee steckt Mirjam Toews. Die Musikerin über ihre Beweggründe und was sie sich für die Zukunft wünscht.

Frau Toews, bei der Musik-Spitex spielen Musikerinnen und Musiker live in den Stuben von Spitex-Klienten. Wieso haben Sie nicht auf ein Streaming-Angebot gesetzt?
Weil ein Streaming-Konzert nie ein Live-Konzert ersetzen kann. Denn auch bei einem Streaming-Konzert sitzen die Menschen alleine im Wohnzimmer. Und genau um das Gesellige geht es bei der Musik-Spitex: Mit Musik durchbrechen wir die Einsamkeit in den eigenen vier Wänden. Wir besuchen die Menschen zu Hause und bringen anstatt eines Blumenstrausses Musik nach Hause.

Sie waren mit Ihrer Bratsche auch für die Musik-Spitex unterwegs. Wie haben Sie die Besuche erlebt?
Das sind meist sehr intensive Begegnungen, weil man Einblicke in Schicksale erhält. Denn die Musik weckt bei Zuhörerinnen und Zuhörern oft Erinnerungen, die sie dann mit mir teilen. Das sind fröhliche, aber oft auch sehr traurige Momente. Als ich für die Musik-Spitex die ersten Konzerte gab, brauchte ich oft einen Tag, um die Begegnungen zu verarbeiten. Ich erinnere mich an einen sehr berührenden Moment: Ich spielte für einen Mann, dem es sehr schlecht ging. Wir gingen alle davon aus, dass dies sein letztes Konzert sein würde. Die Situation war bedrückend. Zwei Wochen später informierte mich dann die Spitex, der Mann spaziere jeden Tag eine halbe Stunde mit seiner Frau. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Klar, man kann sagen, das war Zufall. Es gibt ja keine wissenschaftliche Studie dazu. Aber ich bin überzeugt, Musik weckt Hoffnung und Zuversicht – auch in diesem Fall.

Wie sind Sie überhaupt auf die Idee der Privatkonzerte gekommen?
In Basel organisierte ich eine Konzertreihe. Eine der Sponsoren war die Spitex. Ich wollte mich für den Betrag bedanken. Nur wie? Wenn ich ihnen ein Ticket schenke, dann profitieren nicht die Menschen zu Hause, sondern einzelne Angestellte. Deshalb schlug ich vor, die Spitex einen Tag mit meiner Bratsche zu begleiten. Ich ging quasi auf eine Haus-Tournee. Schon nach diesem einzigen Tag war klar: Das will ich wieder machen. Nicht nur ich erlebte das als äusserst bereichernd, sondern auch die Zuhörerinnen und Zuhörer.

Das Projekt hat die Pilotphase im Kanton Basel-Landschaft überstanden. Wie geht es jetzt weiter?
Das Pilotprojekt wurde aus Spenden und Stiftungsgeldern der öffentlichen Hand finanziert. Derzeit unterstützt uns noch die Sulger-Stiftung. Als Nächstes arbeiten wir darauf hin, dass sich das Projekt finanziell selbst trägt. Die Idee ist, dass Spitex-Organisationen die neue Dienstleistung bei dem Verein cassiopeia buchen. Dafür fragen sie ihre Klientinnen und Klienten, ob sie ein Konzert wünschen. Der Verein cassiopeia kontaktiert dann die Interessierten. Erklärt, was sie erwartet. Danach stelle ich einen Plan zusammen, wer wann besucht wird und organisiere die Musiker dafür. Eine Spitex im Baselland hat etwa im Dezember ein Paket von zwei Tagen gekauft. Bereits mehrere andere Organisationen sind interessiert. Es geht weiter!

Haben Sie einen Traum für die Musik-Spitex?
Ich glaube an die Kraft der Musik und dass wir mit der Musik-Spitex ganz viel erreichen können. Gerade bei Menschen mit Demenz wissen wir, dass Musik stimuliert und anregt. Wäre es nicht fantastisch, wenn eine Musikerin oder ein Musiker nach Hause kommt und für Personen mit Demenz regelmässig musiziert?

Zudem hat Corona uns gezeigt, Musiker haben oft kein zweites Standbein. Den interessierten Musikerinnen und Musikern will die Musik-Spitex langfristig eine neue Möglichkeit geben aufzutreten und ihnen zeigen, wie bereichernd für alle diese Konzerte sind.

Welche Kraft hat Musik für Sie persönlich?
Eine enorme Kraft. Musik hat mich schon über mehrere tiefe Kluften hinweg gerettet. Ich hatte einen schweren Velounfall. Kurz davor spielte ich Bachs Matthäuspassion. Es war dann diese Melodie, die mich am Unfallort die Ruhe bewahren liess, da ich bei vollem Bewusstsein war. Es dauerte sehr lange, bis ich dieses Stück wieder hören konnte. Bei einer Generalprobe dazu habe ich nur geheult. Seither habe ich das Werk zwar nicht mehr gespielt, würde es aber wieder spielen. Musik hilft Traumata zu verarbeiten. Als Musikerin wurde mir mit den Jahren der soziale Aspekt immer wichtiger. Kunst zu machen ist toll, aber wenn sie noch einen sozialen Aspekt in irgendeiner Weise einnimmt, dann wird sie noch viel bedeutender.

Interview: Nicola Mohler, reformiert.info

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