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Die Frau, die sich als Mann verkleidete

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24.02.2022
Viele brillante Wissenschaftlerinnen sind bis heute unbekannt geblieben. Ein neues Buch errichtet diesen Frauen ein kleines Denkmal.

In der Geschichte der Wissenschaft bis Mitte des 20. Jahrhundert – und sogar noch darüber hinaus – gibt es eine einzige Frau, die breit bekannt ist: Marie Curie (1867 – 1934), Entdeckerin der Radioaktivität und mehrfache Nobelpreisträgerin. Welche Frau sonst noch? Keine. Ausser allenfalls Hildegard von Bingen, die Klosterfrau und Universalgelehrte des Mittelalters, die im Jahr 1147 von Papst Eugenius III. die Erlaubnis erhielt, öffentlich zu predigen. Damit war sie die erste Frau, die offiziell als Autorität in theologischen Fragen anerkannt wurde.

Ansonsten herrscht in Sachen Frauen auf der Landkarte der Wissenschaft und Gelehrsamkeit ein weisser Fleck – ein sehr grosser weisser Fleck. Nicht, weil es keine gelehrten Frauen gegeben hätte, sondern, weil sie meist im Schatten wirkten und selten daraus hervortraten.

Den Missachteten gewidmet
Die US-amerikanischen Historikerinnen Anna Reser und Leila McNeill haben sich aufgemacht, diese «Terra incognita» zu erkunden und der Öffentlichkeit zu erschliessen. Aus diesem Vorhaben entstanden ist das soeben erschienene Buch «Frauen, die die Wissenschaft veränderten». Die Autorinnen widmen es all den «Wissenschaftlerinnen und Ärztinnen, Rechendamen, Ehefrauen, Schwestern, Haushaltstechnikerinnen und Wissenschaftsvermittlerinnen, die zu allen Zeiten eine wesentliche Rolle in Naturwissenschaften, Forschung und Entdeckung gespielt haben».

Die Welt der Wissenschaft war lange Zeit -- seit der Antike – von Männern dominiert. Auch wenn Frauen Grosses entdeckten, erfanden, herausfanden, beschrieben und entwickelten, blieb ihnen die Anerkennung oftmals versagt, und schlimmer noch: wurde sie ihnen von ihren Brüdern, Ehemännern, Doktorvätern oder Arbeitskollegen gestohlen.

Die sozialgeschichtlichen Gründe dieser Diskriminierung werden im Buch nur gestreift. Mitgespielt haben bei der langen Geschichte dieser grossen Geringschätzung zweifellos auch religiöse Traditionen und Dogmen wie der Leitsatz «Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter». Vermutlich hätte dies der Apostel Paulus in seinem Brief an die christliche Gemeinde in Ephesus so nicht formuliert, hätte er auch nur geahnt, welche Folgen diese Weisung in den kommenden Jahrhunderten in der westlichen Welt haben sollte.

Sie verbesserte den berĂĽhmten Kepler
Die allgemeine Wissenslücke, die die beiden Autorinnen mit ihrem Buch schliessen, ist in der Tat beträchtlich. Wer das rund 250-seitige Werk liest, staunt Schritt auf Tritt, dass man von all den vorgestellten Frauen noch kaum jemals gehört hat – umso mehr, als deren wissenschaftliche Verdienste zum Teil essenziell sind.

Da ist zum Beispiel die irgendwann zwischen 1600 und 1610 geborene schlesische Astronomin Maria Cunitz. Als Frau blieb ihr der Zugang zu einer Universität zwar verwehrt, aber ihr Vater, der Arzt Heinrich Cunitz, liess ihr persönlich eine fundierte Ausbildung angedeihen.

Maria Cunitz tat sich später als Astronomin hervor. 1650 veröffentlichte sie das 250-seitige Werk Urania Propitia. Bei diesen astronomischen Tafeln handelt es sich um die korrigierte und vereinfachte Version von Tafeln, die der berühmte Astronom Johannes Kepler zuvor erschaffen hatte. Maria Cunitz’ Werk erwies sich als wichtiger Beitrag zur Astronomie; ihr zu Ehren wurde 1960 ein Asteroid und 1961 ein Venus-Krater nach ihr benannt.

Der Assistent war eine Sie
Das Buch «Frauen, die die Wissenschaft veränderten» nennt weitere bedeutende Mathematikerinnen und Astronominnen wie die Französin Nicole-Reine Lepautre, die zwischen 1747 und 1758 an den Berechnungen zur Umlaufbahn des Halleyschen Kometen mitwirkte, oder die Italienerin Maria Gaetana Agnesi, die 1748 das erste Rechenbuch in italienischer Sprache verfasste.

Abenteuerlich mutet die Geschichte von Jeanne Baret an, die, als Mann verkleidet, 1766 an Bord eines französischen Forschungsschiffs in See stach und so die erste Frau der Welt wurde, die die Welt umrundete. Als Assistentin beziehungsweise «Assistent» des Expeditionsleiters Philibert Commerson sammelte sie während der Forschungsreise exotische Pflanzen aus der ganzen Welt von Rio de Janeiro bis Madagaskar und archivierte sie in Herbarien. Dieser «Assistent» galt in den Augen anderer Expeditionsteilnehmer nicht nur als Gehilfe, sondern als eigentlicher Botanikexperte.

«Beispiellose Studie über die vernetzte Ökologie»
In fremde Regionen drang auch die deutsche Wissenschaftsmalerin Maria Sibylla Merian (1647–1717) vor. Ihre Forschungsreise ins südamerikanische, damals holländisch kolonisierte Surinam finanzierte sie selbst. Als Ausbeute brachte sie wichtige botanische und insektenkundliche Erkenntnisse nach Hause, die sie in einem von ihr meisterlich illustrierten Band verarbeitete. «Mit der Darstellung der Lebenszyklen der Insekten und ihrer pflanzlichen Lebensgrundlagen war Merians Buch eine beispiellose Studie über die vernetzte Ökologie in der natürlichen Welt», schreiben Reser und McNeill in ihrem Buch.

Merian hatte Glück, ihr Werk fand Beachtung, ihr Name wurde mit Anerkennung genannt – anders als andere Forscherinnen, mit deren Früchte sich oft genug ihre männlichen Kollegen schmückten. Dies zeigt das Kapitel über die Astronomin Vera Rubin, die 1950 mit einer Masterarbeit über die Geschwindigkeitsverteilung von Galaxien aufwartete.

Vera Rubins Fakultätslehrer anerbot sich, die Arbeit an ihrer statt vor dem Prüfungsgremium zu präsentieren, da sie angeblich wegen ihres kleinen Kindes dazu nicht in der Lage sein würde. Als Gegenleistung verlangte er, seinen Namen an die – offenkundig brillante – Arbeit anhängen zu dürfen. Rubin lehnte ab und präsentierte die Arbeit selbst. Später doktorierte und lehrte sie, und mit ihrer Forschung lieferte sie erste Hinweise auf die geheimnisvolle Dunkle Materie.

Den Blick für das Unrecht schärfen
«Frauen waren nicht nur mit institutionellen Barrieren konfrontiert (...), sondern auch mit alltäglichem Sexismus, Belästigung, Missbrauch und in einigen Fällen mit Gewalt», resümieren die Autorinnen Anna Reser und Leila McNeill in ihrer Monografie. «Statt der Frage nachzugehen, ob Frauen zu wissenschaftlichen Leistungen fähig waren, sollten die Kräfte, die Frauen aus dem Blickfeld verborgen haben, identifiziert und offengelegt werden.» Dies werde, sind die beiden Frauen überzeugt, «zu einem umfassenderen Verständnis der Wissenschaftsgeschichte führen und in der Zukunft hoffentlich Institutionen ermöglichen, die Frauen in der Wissenschaft besser zu integrieren».

Hand Herrmann, reformiert.info

Buchtipp: Anna Reser und Leila McNeill: Frauen, die die Wissenschaft veränderten. Haupt Verlag 2022, rund 250 Seiten, ca. 42 Franken

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