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«Das aktive Zuhören ist die halbe Miete»

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14.03.2022
Der Krieg in der Ukraine wird Thema auf Pausenplätzen und an Esstischen. Matthias Obrist, oberster Schulpsychologe in Zürich, über Gespräche mit Kindern zum Thema Krieg.

Herr Obrist, für die meisten Kinder hierzulande war Krieg bislang ungreifbar, ein theoretisches Konzept. Nun sind die Bilder aus der Ukraine im Fernsehen, im Internet, in den sozialen Medien allgegenwärtig. Wie spricht man mit Kindern über den Krieg?
Das kommt sehr auf das Alter der Kinder an und selbst zwischen Altersgenossen ist der Unterschied in der persönlichen Entwicklung gross. Grundsätzlich würde ich sagen: Kleine Kinder im Vorschulalter schnappen vielleicht einzelne Begriffe auf. Flucht, Sanktionen und so weiter, da braucht es Erklärungen in einfachen Worten. Vor allem aber löst der Krieg bei ihnen Emotionen aus, mit denen sich die Eltern auseinandersetzen müssen. Vorherrschend geht es darum, Sicherheit und Schutz zu vermitteln. Bei Kindern im Schulalter wird es wichtiger, Informationen zu geben und einzuordnen, die Situation der Menschen in der Ukraine und auf der Flucht, detaillierter zu besprechen. 

Eltern wollen ihre Kinder tendenziell schützen, ein Ausblenden der Nachrichtenlage ist keine Option?
Nein, Eltern müssen sich dem Thema stellen. Schutz bedeutet ja auch, einem Kind zu helfen, etwas zu verarbeiten, wovon das Kind sonst überfordert wäre. Ein Kind, das Fragen stellt, darf man nicht alleine lassen. Ausserdem kann das Totschweigen eines so präsenten Themas, Kindern noch zusätzlich Angst machen. Kinder könnten denken, «wie schlimm muss der Krieg erst sein, wenn Mama und Papa nicht mal darüber reden wollen.» Dann wird das Thema noch bedrohlicher als ohnehin schon. Wichtig ist aber auch, ein Auge auf die Informationsquellen der Kinder zu haben. Denn sie sind in der Regel die Grundlage für Gespräche.

Haben Sie dazu eine Empfehlung?
Es gibt im Schweizer Fernsehen aber auch bei den deutschen öffentlich- rechtlichen Sendern sehr gute Nachrichten, für Kinder ab dem Schulalter. Warum nicht ein Abendritual daraus zu machen, diese Sendungen gemeinsam anzuschauen und danach darüber zu sprechen? Überhaupt ist es wichtig, nicht nur auf Fragen der Kinder zu warten, sondern auch selbst nachzufragen. Was denkst Du darüber? Was löst das bei Dir aus? Das aktive Zuhören ist die halbe Miete. 

Kinder lernen im besten Fall zu Hause und in der Schule, Konflikte gewaltfrei und mit Diplomatie zu lösen. Macht das diese Eskalation der Gewalt unter «Erwachsenen» nicht besonders unverständlich?
Wenn wir ehrlich sind, hat die Eskalation auch uns Erwachsene überrascht. Tatsächlich gibt es viele Hilfsmittel, die Schulen einsetzen, um kritische Situationen zwischen Kindern konstruktiv zu lösen. Aber die Kinder wissen auch, dass der Alltag nicht immer wie im Klassenrat verläuft. Auf dem Schulweg oder dem Pausenhof ist die Diplomatie oft weit weg. Insofern können Kinder das schon nachvollziehen.

Vielfach übertragen die Kinder die Situation der Menschen in der Ukraine auf sich selbst. Wohin würden wir gehen, wenn Bomben fallen? Wohin würden wir flüchten?
Das sind völlig nachvollziehbare Fragen, die sich auch Erwachsene stellen. Auf die gibt es einfache Antworten, etwa, dass wir in der Schweiz für jede Person einen sicheren Ort haben. Dass der Krieg zwar in Europa ist, aber weit weg. Und ja, natürlich fragen wir uns auch, wie weit es noch gehen könnte. Hier ist es ratsam, etwas mehr Optimismus an den Tag zu legen, als man es vielleicht Erwachsenen gegenüber täte. 

Im Teenageralter wird Medienkonsum ohnehin schwer kontrollierbar. Nun kursieren Videos aus dem Krieg bei Youtube oder TikTok. Sollten Eltern den Medienkonsum älterer Kinder mehr einzuschränken?
Teenager kommen an Informationen für Erwachsene ran, haben aber noch nicht die Strategien, diese Informationen gut zu verarbeiten. Bilder von Gewalt haben eine Faszination auf junge Menschen, überfordern sie aber auch. Medienkontrolle ist bei älteren Kindern schwierig, aber in diesen Zeiten sollten Eltern doch wachsam sein, ihre Kinder öfters fragen, wo sie sich informieren. Und auch wenn es den Teenagern nicht passt, lieber einmal mehr den Fuss in die Türe setzen. Sinnvoll ist es auch, sich mit den Eltern befreundeter Kinder auszutauschen, zu fragen, «was erzählt mein Kind, wenn es bei Euch ist?» 

Gerade die Jugendlichen hatten in der Coronakrise stark zu kämpfen. Befürchten Sie nun einen weiteren Anstieg von psychischen Problemen?
In der Coronapandemie stiegen die Zahlen von Depressionen bei Jugendlichen deutlich an. Und wir wissen: Angst und Depression gehen oftmals Hand in Hand. Insofern ist die Konstellation derzeit tatsächlich sehr ungünstig. Schwer wiegt auch die Sorge um den Klimawandel auf der jungen Generation. Der neue, sehr pessimistische Bericht des Weltklimarates ging wegen des Krieges fast unter. Das sind schon besondere Belastungen, die in diesen Tagen zusammenkommen.

Sind die Belastungen denn grösser als in früheren Jahrzehnten?
Wir kommen schon in eine stärker von Ängsten geprägte Zeit. Die Ängste, die uns jetzt umtreiben sind konkreter als etwa die Angst vor Terrorismus oder Überfremdung – Themen, die in den letzten 20 Jahren präsent waren. Ich würde sagen, das Belastungsbarometer ist also gestiegen. Zuversichtlich stimmt mich aber, dass wir in der Pandemie Messinstrumente wie die Corona Stress Study entwickelt haben, um die psychische Verfassung von Jugendlichen genauer zu erfassen. Allgemein ist das Thema psychische Gesundheit wichtiger geworden und der Zugang zu Hilfe wird früher gesucht. 

Auch Eltern haben Ängste in diesen Zeiten. Wie viel davon darf man den Kindern zeigen, ohne sie zu verunsichern?
Kinder spüren ohnehin, wenn Ängste und Sorgen die Eltern bedrücken. Und es gibt ja auch Familien, die direkt betroffen sind, deren Freunde oder Angehörige im Kriegsgebiet wohnen. Ängste sind Kindern auch nicht fremd, jedes Kind hat Angst vor irgendetwas, sei es die Dunkelheit, die Höhe, eine Spinne. Man darf dem Kind gegenüber die eigenen Ängste also schon eingestehen. Aber man sollte schnell darauf kommen, wie man mit ihnen umgeht und wie sie sich bewältigen lassen. Was gibt mir Kraft und Mut? Darüber sollte man mit den Kindern sprechen.  Kinder, die mit Religion aufwachsen, können auch aus der Spiritualität Kraft schöpfen. 

Zum Beispiel?
Rituale sind für Kinder hilfreich, etwa das Anzünden einer Kerze, ein Gebet, wenn das ohnehin schon zu ihrem Alltag gehört. Wichtig ist aber auch, das Thema Krieg zu begrenzen, Kontrastprogramm zu bringen, etwa ein cooles Spiel. Auch wenn der Krieg schrecklich ist, gilt es den Kindern zu vermitteln, dass wir kein schlechtes Gewissen haben müssen, hier in Frieden zu leben. Wir können Flüchtlinge aufnehmen, wir können spenden und dürfen aber auch dankbar sein, dass es uns gut geht. Vielleicht wächst aus dieser Dankbarkeit auch ein Gefühl der Verantwortung. Der Krieg zeigt auch unseren Kindern, wie wichtig es ist, unserer stabilen, demokratischen Gesellschaft und der Welt Sorge zu tragen.

Interview: Cornelia Krause

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