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Gewalt im Krieg verletzt die Würde, den Körper und die Seele

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14.04.2022
Die Psychiaterin Gisela Perren-Klingler hat sich weltweit um Kriegs- und Gewaltopfer gekümmert. Sie beschreibt die Trance, die entsteht, wenn Todesangst zur Flucht treibt.

Frau Perren-Klingler, was passiert mit Menschen, die wie derzeit in der Ukraine Gewalt und die Panik des Krieges erleben?
Krieg und die dazugehörige Gewalt in all ihren Ausdrucksformen sind schrecklich. Die Angegriffenen werden «vergewaltigt», weil der Aggressor seine Interessen gegen ihren Willen durchsetzen will. Das verletzt die Würde der Menschen, ihren Körper, ihre Seele. Und ihr sozialer Kontext wird zerstört, was ein Höchstmass an Stress auslöst.

Wie ist die Reaktion auf den Stress?
Krieg schafft wie andere potentiell traumatische Erlebnisse eine Art Trance. Das bedeutet, dass die Aufmerksamkeit vollkommen aufs Überleben fokussiert ist, darauf, sich und andere zu retten. Die allgemeine Wahrnehmung ist eingeschränkt, und die Menschen sind dissoziiert, also abgeschnitten von allem, was ausserhalb des aktuellen Bewusstseinszustands liegt. Wer vom Horror der Gewalt überrollt wird, gerät in Schrecktrance. Das ist wichtig zu wissen, denn in diesem Zustand kommen die Geflüchteten zu uns. Und diese Stress-Trance kann sich auch auf die Helfenden etwa in der Schweiz auswirken.

Wie lässt sich das verhindern?
Indem wir aus den Erfahrungen des Jugoslawienkrieges in den 1990er-Jahren lernen und uns als Unterstützende sagen: Die Menschen kommen aus dem Horror des Krieges, sind physisch und psychisch in einer Kriegstrance und fühlen sich hilflos. Aber wir hier sind es nicht. Wir können Nahrung, Schutz und eine relative hohe Sicherheit bieten, was sehr wertvoll ist.

Was kann den Stress nach dem Verlassen der Heimat mitten im Krieg reduzieren?
Wichtig ist, die Ankommenden zu fragen, was sie brauchen, um das nach Möglichkeit zur Verfügung zu stellen. Und ihnen Zeit zu lassen, den immensen Stress abzubauen und anzukommen. Das kann unterschiedlich lange dauern. Für die Ukrainer ist Russland nicht erst seit dem Krieg eine Bedrohung. Mit dem russischen Einmarsch wurde aus der möglichen Gefahr eine reale. In Todesangst mussten die Leute Hals über Kopf alles Gewohnte, alles, was ihr Leben ausmachte, verlassen. Ein Abschied von Angehörigen konnte oft nicht stattfinden. Und nach einer chaotischen Flucht durch lebensgefährliche Gebiete kamen sie in einem Aufnahmezentrum etwa in Polen an. Das ist Stress pur.

 

Wer sich vom Leid der andern berühren lässt, darf nicht dem Glauben verfallen, dass er dieses Leid beenden kann.
Gisela Perren-Klingler, Psychiaterin, ehemalige IKRK Delegierte

 

Den Neuankömmlingen kommt hierzulande viel Solidarität aus der Bevölkerung entgegen. Sie finden Unterkunft bei Privaten, die Kinder werden rasch eingeschult, und wer will, kann sich Arbeit suchen. Was löst bei uns die Ungleichbehandlung der Asylsuchenden aus, die oft schon mehrere Jahre in unserem Land sind und in einer schlechteren Situation leben?
Bei diesen anderen Asylsuchenden kommt wohl Aggression, Wut, Unverständnis auf, was durchaus nachvollziehbar ist. Einige reagieren jedoch sicher auch mit Mitgefühl und Hilfsbereitschaft. Klar ist, Asylbewerber haben hierzulande nicht das Recht auf alles, sondern werden nach Möglichkeit und ihren Rechten als Asylsuchende unterstützt. Das mag für einige hart sein, aber auch wir als Staat, als Bevölkerung haben derzeit eine Krise zu bewältigen. Und wie in jeder Krise müssen auch wir den Fokus auf das derzeit Wichtigste legen, nämlich die Tausenden von Geflüchteten aufzunehmen und zu versorgen. Um mögliche Verbesserungen der Bedingungen für die anderen kümmern wir uns später.

Das klingt etwas hart, finden Sie nicht?
Mag sein, aber wir können nicht alle Probleme dieser Welt und schon gar nicht alle Probleme gleichzeitig lösen. Wir sind nicht omnipotent. Das meinte ich mit der Trance der Helfenden. Wer sich vom Leid der andern berühren lässt, darf nicht dem Glauben verfallen, dass er dieses Leid beenden kann. Auch als Psychiaterin musste ich mir immer wieder klar machen: Ich kann meine Patienten begleiten, sie unterstützen, aber ihren Schmerz kann ich ihnen nicht abnehmen. Schmerz ist menschlich, nicht krankhaft und braucht Solidarität und nicht Behandlung. Und es ist möglich, neue Strategien zu finden und zu lernen, den Blick trotz allen Leids auf den jetzigen Moment zu richten und ihn bestmöglich zu gestalten.

In den 1990er-Jahren kamen vor allem junge Männer in unser Land. Jetzt, im Ukrainekrieg, sind es hauptsächlich Frauen mit Kindern. Das scheint eine unterschiedliche Art von Solidarität auszulösen?
Genau. Die Frauen und Kinder aus der Ukraine brauchen Schutz, und man kann davon ausgehen, dass viele von ihnen in ein bis zwei Jahren wieder zurück in ihr Land gehen. Bei den jungen Männern damals, die aus dem Balkan, dem arabischen Raum, aus Syrien, Pakistan oder aus afrikanischen Ländern hierherkamen, war die Situation anders. Sie verliessen ihre Heimat aus politischen Gründen. Das hat eine andere Wirkung, sie erlebten bei uns viel Ablehnung. Und ich persönlich vertrete die Meinung, dass sich junge Männer eher für ihr Land einsetzen sollten, und ja, dort auch kämpfen sollten.

Unterstützung für die Menschen in Kriegsgebieten kommt auch von Hilfsorganisationen. Eine davon ist das Internationale Komitee des Roten Kreuzes IKRK, das unlängst in die Kritik geraten ist. Das Bild des IKRK-Präsidenten Peter Maurer, der freundlich lächelnd die Hand des russischen Aussenministers Sergej Lawrow schüttelte, sorgte für Irritation. Zu Recht?
Als ehemalige langjährige Delegierte des IKRK kann ich grundsätzlich sagen, dass das, was man von der Arbeit dieser Organisation in der Öffentlichkeit sieht, nie alles ist. Häufig wird hinter den Kulissen verhandelt, diskret und vertraulich. So wird meiner Meinung nach auch jetzt in Russland und in der Ukraine viel mehr gemacht, als wir wissen.

Trotzdem suggerierte das kritisierte Bild eine besondere Nähe zu Russland.
Wer Blicke und Handshakes nach Dauer oder nach dem Lächeln beurteilt, versteht die immense Bedeutung der Hilfswerke, NGOs oder UNO-Organisationen als unsichtbare Kriegsteilnehmer nicht. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz ist neutral und unparteiisch. Es hat den Auftrag, mit allen Kriegsparteien zu sprechen und sich um Notleidende beider Seiten zu kümmern. Und ich frage mich, wer ausser dem IKRK ist noch im ukrainischen Kriegsgebiet? Nicht mehr viele, weil es zu gefährlich ist. Die Menschen, die dort andere unterstützen, riskieren viel, seien wir ihnen dankbar

Katharina Kilchenmann, reformiert.info

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