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Die Solidarität, die Standard sein sollte

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21.04.2022
Der Schutzstatus S für Geflüchtete aus der Ukraine ist gerechtfertigt – aber auch ungerecht. So sehen es Betroffene selbst und Fachleute, die mit Flüchtlingen arbeiten.

«Es ist kompliziert. Ich fühle mit ihnen mit. Anderseits spüre ich Eifersucht, da ihr Leben so viel einfacher ist als meines, als ich in die Schweiz kam», sagt der Syrer Fatima al-Damaski (Name geändert). Für die Menschen aus der Ukraine gibt es ein öffentliches Willkommenheissen, schnelles Asylverfahren, sie dürfen den Kanton frei wählen, wo sie wohnen wollen, erhalten Arbeitserlaubnis, Familiennachzug.

Al-Damaski stellt fest: «Das System muss nicht herzlos sein, und der Fall der Ukrainer zeigt uns, dass es eben genau auch so geht: wilkommen heissend.» Und doch seien es weniger die Flüchtlinge, die frustriert sind über die unterschiedlichen Standards, sondern eher die Menschenrechtsaktivistinnen, die Anwälte, die Beraterinnen in den Asylzentren.

Kein Vorwurf an die Solidarischen
Esther Oester ist als Gründerin und Vorstandsmitglied des Vereins Paxion eine dieser Fachpersonen. Paxion besteht aus Geflüchteten und Fachleuten der psychischen Gesundheit, die sich für eine pluralistische Gesellschaft und politische Partizipation einsetzen. Sie wollen niederschwellige psychosoziale Beratung für Geflüchtete etablieren, da diese sehr oft durch traumatische Erlebnisse belastet sind.

Von der aktuellen Solidaritätswelle sei sie sehr bewegt, sagt Oester. Doch sie sehe auch eine Ungleichbehandlung – und das sei kein Vorwurf an jene, die jetzt solidarisch sind. «Als Aleppo bombardiert wurde, bei der Tragödie in Afghanistan: Da hat die Empörung vielleicht zehn Tage hingehalten.» Doch dass nun sogar vom Bundesrat gesagt wird, das jetzt seien echte Kriegsflüchtlinge: «Das empfinde ich als sehr stossend. Eine solche Spaltung ist weder ethisch, religiös, moralisch noch rechtlich zu rechtfertigen.»

Esther Oester sieht diese Haltung in der Gesetzgebung zementiert. «Das Ausländer- und Integrationsgesetz kritisiere ich sehr. Hier sind sehr viele Ungerechtigkeiten festgehalten.» Die Verquickung von Sozialhilfe und Asylstatus etwa sei unglücklich. Vor drei Jahren hingegen hätte das Parlament mit dem «Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration» ein «super Regelwerk» festlegen können. Aber der Nationalrat lehnte es ab. «Doch die Menschenrechte müssten für alle gleich gelten», betont Oester.

Ein Gefühl von 2.-Klasse-Flüchtling
Irene Neubauer, katholische Seelsorgerin im Bundesasylzentrum (BAZ) Kappelen bei Lyss, staunt, wie verhalten die Reaktionen unter den Geflüchteten sind. «Es gibt kein offenes, grosses Aufbegehren. In Einzelgesprächen kommt aber manchmal schon zum Vorschein, dass sie teils das Gefühl von 2.-Klasse-Flüchtlingen haben gegenüber der erstklassigen Behandlung der Menschen aus der Ukraine.»

Ein Problem, dass viele Geflüchtete zur Sprache bringen, seien zum Beispieldie Kosten für den öffentlichen Verkehr. Für jene, die keinen Schutzstatus S haben, ist das Zugfahren praktisch unerschwinglich; vergütet werden ihnen nur Tickets zu medizinischen oder offiziellen Terminen. Auch dass sie nicht arbeiten und nicht da leben dürfen, wo sie wollen, erfahren sie als einschneidende Einschränkungen. «Trotzdem sagt niemand von den anderen Geflüchteten: Die Ukrainerinnen und Ukrainer dürfen das nicht erhalten. Niemand stellt in Frage, dass sie Schutz brauchen», sagt Neubauer.

Aus christlicher Sicht inakzeptabel
Nicht einverstanden mit dem unterschiedlichen Vorgehen ist Neubauer selbst. «Für mich geht die aktuelle Ungleichbehandlung der Flüchtlinge je nach Herkunft gar nicht. Speziell stossend finde ich zudem, dass auch von den Menschen aus der Ukraine nicht alle gleich behandelt werden.» So gibt es für Geflüchtete aus der Ukraine, die aus aussereuropäischen Ländern stammen und keinen ukrainischen Pass haben, nicht auch automatisch den Schutzstatus S. Und: «Wenn Bundesrätin Karin Keller-Sutter sagt, die Ukrainer seien halt Miteuropäer, klingt das für mich, wie wenn die Geflüchteten aus aussereuropäischen Ländern nicht im gleichen Masse Mitmenschen wären. Das finde ich aus christlicher Sicht inakzeptabel», sagt die Seelsorgerin.

Ihrer Ansicht nach müsste der jetzige Umgang mit den Flüchtenden aus der Ukraine der Massstab sein für alle. «Es ist wunderbar, beeindruckend und berührend, wie breit die Not und die Notwendigkeit für Hilfe wahrgenommen wird und wie konkret solidarisch sich viele zeigen.» Irene Neubauer erhofft sich durch die aktuelle Betroffenheit in der Bevölkerung ein breites Erwachen: «Ich denke, dass jetzt einige merken, wie schwierig es ist, mit gut 300 Franken pro Monat für Kleider, Essen und Handy über die Runden zu kommen. Und gerade das Smartphone ist für Geflüchtete eine absolute Nabelschnur, ein Draht zur Welt, zu ihren Angehörigen – und kein Luxus.» Schliesslich zeige die aktuelle Situation auch, was alles möglich ist, wenn der politische Wille da ist. Das gibt Hoffnung, findet Irene Neubauer.

Marius Schären, reformiert.info

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