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«Christentum ist ohne kulturelle Aneignung nicht vorstellbar»

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25.08.2022
Der Begriff erregt Gemüter – und auch im Christentum sei kulturelle Aneignung zentral, sagt die Theologin Katharina Heyden. Die Diskussion findet sie wichtig.

Am 18. Juli brachen die Veranstalter in der Berner Brasserie Lorraine ein Konzert ab. Als Grund wurde genannt, dass sich Menschen im Publikum unwohl fühlten, weil eine weisse Band Reggae-Musik spielte und Bandmitglieder Dreadlocks trugen. «Kulturelle Aneignung» wurde beim Brasserie-Team reklamiert.

Nach dem Bekanntwerden der Geschichte gingen die emotionalen Wellen weitherum hoch. Und jetzt ermittelt gar die Staatsanwaltschaft wegen eines Verstosses gegen die Rassismus-Strafnorm, aufgrund einer Anzeige der Jungen SVP – Rassismus gegen Weisse, notabene.

Die Diskussionen zeigen: Das Thema ist nicht einfach. Und wenn man es auf die christliche Religion bezieht, wird es gar herausfordernd, wie das Interview mit der Theologie-Professorin Katharina Heyden verdeutlicht.

Frau Heyden, auch in der christlichen Religion dürfte im Lauf der Geschichte immer wieder kulturelle Aneignung erfolgt sein. Welche Beispiele sehen Sie?
Ja, natürlich, das Christentum ist ohne kulturelle Aneignung gar nicht vorstellbar – wobei ich diesen Begriff erst einmal nur als neutrale Beschreibung verwende und nicht werte. Das Osterfest ist eine kulturelle Aneignung des jüdischen Passafestes, jedes Abendmahl ist im Grunde eine christliche Variation des Passamahls. Weihnachten ist eine Aneignung des römischen Festes des Sol Invictus, der unbesiegbaren Sonne, und die christliche Heilige Schrift ist zum grössten Teil eine Aneignung des Judentums. Nicht nur, weil die jüdische Bibel als «Altes» Testament in den Kanon übernommen wurde, sondern auch weil die neutestamentlichen Schriften voll von Aneignungen jüdischer Prophetie sind.

Was für kulturelle Aneignungen gibt es im Kleineren?
Eine explizite Aneignung ist zum Beispiel, dass Paulus den Leuten in Athen erklärt, dass ihr «unbekannter Gott» eigentlich der christliche Gott ist (Apg 17). Aneignungsprozesse ziehen sich durch die gesamte christliche Kulturgeschichte. Selbst noch während der Kreuzzüge waren Christinnen und Christen offen für Einflüsse aus der muslimischen Kultur, die sie doch eigentlich bekämpften. Das ist auch nicht verwunderlich, denn Aneignung ist eine wesentliche Triebkraft jeder Kultur. Und sie ist grundsätzlich ambivalent, weil sie immer mit Gewinn und Gefahr einhergeht.

Spirituelle Trends wie Yoga und Meditation beruhen teils stark auf Bräuchen «fremder» Kulturen. Warum erfolgt da kein Aufschrei?
Interessante Frage! Vielleicht, weil die westliche Aneignung von Yoga und buddhistischer Meditation schon in den 1960er Jahren begonnen hat, als kulturelle Aneignung noch nicht so stark in Verruf geraten war, sondern positiv als Offenheit gegenüber fremden Kulturen galt? In den «Ursprungsregionen» von Yoga und Meditation gibt es natürlich durchaus auch Kritik an diesen westlichen Übernahmen und Interpretationen. Aber es gibt auch viel Gelassenheit.

Warum das?
Solange kulturelle Aneignung in Wertschätzung geschieht und nicht Ausbeutung oder sogar Vernichtung mit sich bringt, schadet sie ja niemanden. In unseren westlichen Gesellschaften kommt die Kritik interessanterweise selten von Menschen aus den angeeigneten Kulturen, sondern von Angehörigen der aneignenden Kultur. Sie machen auf die Gefahr aufmerksam, andere Kulturen ökonomisch auszubeuten oder sich respektlos einzuverleiben.

Eigentlich wundert es, dass der Vorwurf tendenziell öfter von Menschen zu kommen scheint, die sonst eher als offen und tolerant gelten.
Eine pauschale Verurteilung läuft durchaus leider selbst Gefahr, Verschlossenheit zu befördern. Denn wenn ich jede kulturelle Aneignung vermeide, dann ende ich in einer Blase aus eigener, von fremden Einflüssen reiner Identität. Das ist die Paradoxie und das Dilemma der Kritik an kultureller Aneignung.

Wie ordnen Sie den Diskurs aus theologischer Sicht ein?
Der Grundpfeiler des Christentums, die Idee der Inkarnation, ist im Grunde eine Aneignungs-Idee: Gott eignet sich in Jesus die Menschlichkeit an, die ihm eigentlich per Definition wesensfremd ist, um mit den Menschen in Beziehung treten zu können. Um es provokant auszudrücken: Aneignung ist im Christentum eine Heilsbotschaft! Aber: Aneignung ist Beziehungsarbeit. Und Beziehungen sind immer zugleich verheissungsvoll und gefährlich für die eigene Identität.

Was bedeutet das bezogen auf die aktuellen Vorfälle?
Genau darin zeigt sich diese Ambivalenz, die wir aus der Geschichte des Christentums allzu gut kennen. Die Personen, die sich gegen kulturelle Aneignung aussprechen, sind ja eigentlich sehr offen für Fremdes. Und doch tendieren sie aus meiner Sicht dazu, Reinheitsidealen zu folgen, die dieser Offenheit eigentlich zuwiderlaufen. Der Grund dafür sind die komplexen Machtverhältnisse. Für dieses Thema sind unsere Gesellschaften im Moment mit guten Gründen sehr sensibel. Wir haben uns so lange an der Ausbeutung anderer Kulturen und der Natur beteiligt, dass wir damit jetzt konsequent Schluss machen wollen.

Welche christlichen Hintergründe gibt es hierzu?
Die heutige Kritik kultureller Aneignung wird selten christlich begründet. Aber als Theologin würde ich sagen, da kommt das zweite christliche Grundereignis ins Spiel: Dieser Jesus, der ein Symbol für die Aneignung des Menschlichen durch das Göttliche ist, hat sich mit seinem ganzen Leben gegen Machtmissbrauch eingesetzt – genauso wie gegen übertriebene Reinheitsvorstellungen. In diesem Spannungsfeld zwischen Aneignung, Machtfragen und Reinheitsvorstellungen bewegen wir uns auch heute.

Wann macht eine Debatte über kulturelle Aneignung überhaupt Sinn?
Für mich ist die entscheidende Frage, wann kulturelle Aneignung – die eben ein notwendiger Motor jeder Kultur ist – in ökonomische Ausbeutung oder politischen Machtmissbrauch umschlägt. Dann, und nur dann, wird sie problematisch. Aber natürlich ist es nicht einfach, diese Grenzen zu erkennen. Deshalb ist eine Debatte immer sinnvoll. Und nur eine Debatte kann verhindern, dass «kulturelle Aneignung» zu einem unhinterfragten Schlagwort wird! Aus meiner Sicht ist sie nichts Negatives. Das eigentliche Problem sind kulturelle Kolonialisierung oder gar Vernichtung.

In kultureller Aneignung äussert sich auch eine säkulare Sehnsucht nach Religion – was meinen Sie zu dieser These?
Ich stimme zu. Auch hier kann ein Blick in die Geschichte des Christentums helfen. Denn auch Christinnen und Christen waren nicht immer nur Subjekte , sondern manchmal auch Objekte kultureller Aneignung. So ist das Weihnachtsfest, das eigentlich einen sehr ernsthaften, fast empörenden Kern hat – eben die Aneignung des Menschlichen durch das Göttliche – im 19. Jahrhundert, also genau zur Zeit der Säkularisierung zu einer Feier bürgerlicher Idylle geworden. Viele Gläubige des Christentums litten und leiden noch heute unter diesen Verniedlichungen und der Kommerzialisierung eines für ihre Identität sehr wichtigen Festes. Aber ja, hinter der Krippe, den Kerzen und all den Ritualen steht wohl auch eine säkulare Sehnsucht nach Religion. 

Und was kann das Christentum beisteuern, um kulturell zu verbinden?
Das Christentum hat den Anspruch, verschiedene Kulturen durch einen gemeinsamen Glauben zu verbinden: «Hier ist nicht mehr Jude oder Grieche, sondern ein Herr», sagt Paulus in Gal 3,28. Aus dieser Überzeugung heraus hat das Christentum vielerorts eine grosse verbindende Kraft entfaltet – und tut es noch heute. Aber dieser universale Anspruch geht natürlich auch mit Machtansprüchen und der Gefahr von kulturellem Hochmut einher, und das Christentum kennt die dunklen Seiten kultureller Aneignung aus der eigenen Schuldgeschichte. Darum kann ein Blick in die eigene Geschichte sowohl die schönen wie auch die schrecklichen Seiten kultureller Aneignung vor Augen führen.

Was bedeutet das für die Praxis?
Ich denke, es kommt nicht darauf an, kulturelle Aneignung zu verhindern. Das geht gar nicht und ist auch nicht wünschenswert. Wir verdanken unsere eigene Identität immer der Auseinandersetzung mit und Aneignung von Fremdem. Aber es ist wichtig, dass diese Aneignungen gegenseitig passieren können, so dass ich mal das Subjekt und mal das Objekt kultureller Aneignung bin. Viele festgefahrene Machtkonstellationen müssten aufgebrochen werden, damit das eine gesellschaftliche Wirklichkeit werden kann. Aber christliche Gemeinschaften können schon jetzt Orte sein, an denen eine respektvolle und dankbare kulturelle Aneignung in Gegenseitigkeit auf kleiner Ebene kultiviert wird.

Interview: Marius Schären, reformiert.info

 

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