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Religiös und radikal

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29.09.2022
Am 14. Oktober wird der vor 150 Jahren geborenen deutsch-jüdischen Publizistin und Philosophin Margarete Susman gedacht, die einen grossen Teil ihres Lebens in der Schweiz verbrachte. Welche Bedeutung ihr Denken und Wirken noch heute hat, versucht Kurt Seifert zu ergründen.

Ihre letzte irdische Ruhestätte fand Margarete Susman auf dem Friedhof der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich im Oberen Friesenberg – dort, wo auch zum Beispiel der Philosoph Jacob Taubes oder der langjährige Präsident der Cultusgemeinde, Sigi Feigel, begraben sind. Ihr Grabstein trägt die Inschrift: «MARGARETE SUSMAN – DICHTERIN, DENKERIN, DEUTERIN». Die 1966 Verstorbene stand in enger Verbindung und regem Austausch mit vielen heute noch bekannten Persönlichkeiten der geistigen Welt des Judentums wie Martin Buber, Ernst Bloch oder Paul Celan. Sie selbst aber geriet in Vergessenheit und wird erst heute wieder neu entdeckt.

Ein entscheidender Anteil an der gegenwärtigen Susman-«Renaissance» kommt der in Frankfurt/M. wirkenden Rabbinerin Elisa Klapheck zu, die eine Dissertation mit dem Titel Margarete Susman und ihr jüdischer Beitrag zur politischen Philosophie geschrieben hat, die auch in Buchform erhältlich ist. Klaphecks These lautet, im vielfältigen lyrischen wie essayistischen Werk von Susman sei «eine geistige Hauptlinie» zu finden: eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Judentum.

Ihr eigener Weg
1872 kommt Margarete Susman als zweite Tochter einer wohlsituierten, assimilierten Kaufmannsfamilie in Hamburg auf die Welt. In der Schule wächst sie mit evangelischem Religionsunterricht auf. Erst später macht sich Margarete mit der jüdischen Religion vertraut. Bereits in ihrer Jugendzeit beeindruckt sie durch ihre künstlerische und philosophische Begabung, doch der Vater verbietet ihr die Aufnahme eines Studiums. Erst nach dessen Tod erhält sie die Erlaubnis ihrer Familie, in Düsseldorf Malerei studieren zu dürfen. Dort lernt Margarete ihren späteren Ehemann, Eduard von Bendemann, kennen. Durch einen Umzug nach München gerät Susman in den Kreis um den Dichter Stefan George, später besucht sie das Privatkolloquium des Philosophen Georg Simmel in Berlin.

Kurz bevor sie sich taufen lassen wollte, widerrief Susman ihren Entscheid: Das «Gefühl einer nicht zu durchbrechenden Treue» zum Judentum habe sie von diesem Schritt abgehalten. Diese Treue bestimmte ihr ganzes Denken und Tun – auch wenn sie, ähnlich dem biblischen Hiob, lebenslang mit Gott rang, der die Katastrophe der europäischen Judenheit nicht verhindert hatte. Susman ging ihren eigenen Weg. Anders als viele Juden und Jüdinnen jener Zeit wählte sie weder das säkulare Engagement in liberalen und sozialistischen Richtungen noch den auf die Schaffung einer jüdischen Heimstätte in Palästina ausgerichteten Zionismus. Sie stand vielmehr für ein politisches Judentum im eigenen Land, das selbstbewusst auf seine religiösen Ursprünge verweist. Aus ihren Schriften spricht eine messianische Hoffnung, die davon geprägt ist, dass der Sinn des Gesetzes Gottes «das auf die Erlösung oder Befreiung hin ausgerichtete Wandeln» sein soll, wie Elisa Klapheck schreibt.

Revolution als Glück
Susman äussert sich kritisch zum Ersten Weltkrieg und engagiert sich nach dem Kriegsende publizistisch für die Revolution. Eine besondere Bedeutung kommt dabei ihrer Beziehung zum anarchistischen Pazifisten Gustav Landauer zu, der in der kurzlebigen Münchner Räterepublik eine wesentliche Rolle spielt und nach deren Niederschlagung in der Haft ermordet wird. In einem Nachruf schreibt Susman: Für Landauer sei die Revolution nicht allein «Sühne und Opfer» gewesen, sondern «allem voraus Glück: das Glück der Befreiung zum Menschentum; Befreiung vom Druck jahrhundertealter Vergewaltigung, vom Druck eines grauen, rohen, ungerechten Lebens.»

Diesen Antrieb teilte Susman, auch wenn sie sich keiner Partei anschloss und kein konkretes politisches Programm vertrat. Nach der Machtergreifung der Nazis konnte sie nicht mehr in Deutschland bleiben und floh 1934 in die Schweiz. Dort fand sie ihre geistige Heimat in der Bewegung des religiösen Sozialismus rund um den reformierten Theologen Leonhard Ragaz und dessen Frau Clara. Ragaz’ religiöse Fundierung des Sozialismus als «Revolution von Gott her» fand in den Aufsätzen Susmans in der religiös-sozialistischen Zeitschrift Neue Wege eine entschiedene Zustimmung.

Ein emanzipatorischer Anspruch
Welche Aktualität könnte Margarete Susmans Denken besitzen? Die Verbindung von Religion und Politik gilt heute als höchst problematisch. Sie wird vielfach als Ausdruck eines Fundamentalismus begriffen, der die Tendenz zu theokratischen Strukturen der Herrschaft in sich trägt. Susmans Verständnis des Religiösen orientiert sich dagegen an einem emanzipatorischen Anspruch: Durch das am göttlichen Gesetz ausgerichtete Handeln von Menschen soll die Spaltung zwischen den Sphären eines himmlischen Reiches und der weltlichen Politik überwunden werden.

Kurt Seifert, reformiert.info

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