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Völlig normale Kunst ­– oder etwa nicht?

von Sandra Hohendahl-Tesch, reformiert.info
min
22.09.2022
An der Ausstellung «Kunst und Inklusion» zeigen Künstlerinnen und Künstler mit und ohne Behinderung ihre Werke. Bildhauer Hans Thomann spricht mit «reformiert.» über die Bedeutung einer Zitrone und darüber, warum gewisse Schubladen ausgedient haben.

Was im Kopf bleibt, ist eine Zitrone. Später soll darauf noch ausführlicher eingegangen werden. Nur so viel: Sie steht für das gesellschaftspolitische Ziel der Ausstellung «Kunst und Inklusion», die derzeit in der ökumenischen EPI Kirche auf dem Areal der Schweizerischen Epilepsie-Stiftung und in der nur unweit gelegenen reformierten Kirche Balgrist zu sehen ist.

Da sind zum Beispiel die Zeichnungen von Thierry Bouvard, die einen gleich beim Eingang der EPI Kirche in ihren Bann ziehen. Kleine Striche mit Farbstiften sorgfältig inszeniert, verwandeln sich beim Betrachten in eindrückliche Stadt- und Berglandschaften oder in Grossaufnahmen von Tieren, wie von der neugierig dreinblickenden Bulldogge. Diese sei Bouvard bei einem Spaziergang zufällig begegnet, heisst es in den Begleittexten von Kuratorin Veronika Kuhn, die sie zu den Werken verfasst hat.

Unwort Normalität
Thierry Bouvard ist Autist und Epileptiker. Er spricht nicht. Vielmehr ist die Kunst seine Sprache. Und diese «universelle Sprache der Kunst» fasziniert auch den namhaften Schweizer Bildhauer Hans Thomann. Für die Schau hat er neun lebensgrosse Figuren aus Metall erschaffen, die in der Kirche Balgrist ausgestellt sind. «Sie thematisieren die Verletzlichkeit des Menschen», erklärt er im Gespräch mit «reformiert.» Je nach dem von welcher Seite man sie betrachtet, erscheinen sie fertig oder unfertig.

Fantastisch sei es, «wenn die Kunst den Stellenwert eines Ausdruckmittels ausserhalb des gesprochenen Wortes bekomme», so Thomann. Denn viele Künstlerinnen und Künstler, deren Werk hier gezeigt wird, sind für ein Gespräch nicht zugänglich – sei es, weil sie wie Bouvard Autisten sind oder etwa an einer psychischen Krankheit leiden. Den meisten Werken gemein ist, dass sie über viele Jahre hinweg in Ateliers von Wohnheimen und Einrichtungen entstanden sind. Wie die farbigen Traumlandschaften von Jeanette Schüpbach. Oder die kindlich anmutenden Bleistiftzeichnungen von Christoph Diemand, die in ihrer Fragilität mit Thomanns Figuren in einen direkten Dialog treten.

Normalität ist für den Installationskünstler aus St. Gallen, der selber an einem schweren Tinnitus leidet, beinahe ein Unwort. Er konfrontiert das Publikum denn auch schonungslos mit der Illusion der Perfektion. Das makellose Gesicht von Michelangelos David hat er auf Metallstäben fixiert und in zwei Hälften geschnitten. Die eine Hälfte ist so mit einem Spiegel versehen, dass man sein eigenes Gesicht darin erkennen kann. Wo fängt Norm an und was weicht von dieser ab?

Nur eine Welt
Für Thomann ist klar: Kunst muss für sich stehen, bedarf nicht zwingend einer Vermittlung. «Sie wirft den Betrachtenden auf sich selbst zurück.» Dabei spiele es keine Rolle, welch mentalen Hintergrund eine Künstlerin oder ein Künstler habe. Der «art brut» steht er deshalb eher kritisch gegenüber, jener Kunstströmung, die seit Beginn des letzten Jahrhunderts Zeichnungen und Skulpturen aus der Psychiatrie in speziellen Ausstellungen eine eigene Plattform geben will. «Im Prinzip ist das nur eine weitere Schublade», sagt Thomann.

Schubladisieren will die Ausstellung gerade nicht. Viel mehr möchte sie auf die Inklusion als erklärtes Ziel hinweisen, auf die Teilhabe von behinderten Menschen in allen Lebensbereichen, auch in der Kunst. Das künstlerische, in der Gesellschaft vorhandene Potential gilt es dabei sichtbar zu machen – «es soll als Impuls für weitere Ausstellungen dienen», sagt Kuratorin Kuhn. In den Begleittexten verzichtet sie in den meisten Fällen darauf zu erwähnen, ob eine Künstlerin oder ein Künstler «behindert» ist oder nicht.

An diesem Punkt kommt dann auch die ominöse Zitrone wieder ins Spiel. Thomann hat sie unter einer aus vielen Schmetterlingen gestalteten Büste am Metallstab so angebracht, dass sie ein wahrer Blickfang ist. Was hat es damit auf sich? «Zitrone» sei ein Codewort, das er mit seiner langjährigen Ehefrau vereinbart habe. Es komme immer dann zur Anwendung, wenn der eine den anderen dabei ertappe, bewusst oder unbewusst das Thema zu wechseln. «Die Zitrone hat für mich die Funktion, auf Unangenehmes hinzuweisen.»

Behinderung und Krankheit werde in der Gesellschaft oft als unangenehm wahrgenommen. Im Kontext der Ausstellung soll die Zitrone darum einfach daran erinnern, dass Inklusion noch lange nicht erreicht ist. Denn nach dem Besuch gehe es für die meisten wieder zurück in ihre jeweilige Lebenswelt. Sei es zum Beispiel in die laute Welt der Hörenden oder in die stille der Gehörlosen. «Dabei leben wir– und das mache diese Kunst deutlich – in einer Welt.»

Sandra Hohendahl-Tesch, reformiert.info

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