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Persönlichkeiten bringen Licht in ein dunkles Kapitel

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17.10.2022
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen: Das sperrige Wort betrifft viele Menschen in der Schweiz mit traurigen Folgen. Eine neue Stufe der Aufarbeitung wurde jetzt gestartet.

Nadine Felix ist heute 48 Jahre alt. Ihre Geschichte ist kurz gefasst auf der Website des Vereins «Gesichter der Erinnerung» zu lesen. Denn sie ist eine der mehreren 100'000 Menschen in der Schweiz, die von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen betroffen waren.

Behörden, Organisationen und Kirchen als Täterschaft
Auf der neuen Website stehen die Erfahrungen der 32 Menschen im Zentrum. Auch Partnerinnen, Kinder und Fachleute kommen zu Wort. Durchgeführt wurden Fremdplatzierungen und Fürsorgemassnahmen unter Zwang von Behörden und mit Unterstützung privater und kirchlicher Organisationen und Einrichtungen. Es waren sozialpolitische Instrumente, um gesellschaftliche Normen und auch Moralvorstellungen durchzusetzen.

Die betroffenen Menschen erzählen eingängig und bewegend ihre Geschichten. Sie sagen, wie sie bis heute mit den Folgen zu kämpfen haben. Und sie erklären, wie sie trotz allem die Kraft gefunden haben, weiterzuleben – und wie es ihnen dabei ergangen ist. Besonders erschreckend ist, dass auch viele junge Menschen darunter sind. Das heisst: Der Erhalt der gesellschaftlichen Ordnung war in der Schweiz bis in die jüngste Zeit oft wichtiger als das Wohlergehen einzelner Menschen.

Neue Wege auf drei Ebenen
Loretta Seglias ist Historikerin und Mitglied des Kernteams des Projekts. Dieses gehe mit der Website auf drei Ebenen neue Wege, sagt sie: in der Herangehensweise, in der Perspektive und in der Umsetzung. Im Kernteam – zu dem auch MarieLies Birchler und Mario Delfino gehören – seien die Perspektive der Betroffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen sowie jene der Geschichtswissenschaft vertreten. «Wir haben den partizipativen Ansatz konsequent angewandt, das Projekt gemeinsam entwickelt und umgesetzt. Dazu gehörte auch die Sicherstellung der Finanzierung», sagt Seglias.

Weiter zentral sei es zu zeigen, welche Massnahmen es gab, wer davon betroffen war und wie diese nachwirken. Dafür hätten sie auch die Perspektive von Angehörigen und Berufspersonen einbezogen, erläutert die Historikerin. «Die Forschung geht von mehreren hunderttausend Betroffenen Kindern und Erwachsenen aus, die in Pflegefamilien und Heimen aufwuchsen, ohne Gerichtsurteil administrativ versorgt wurden oder Adoptionen, Sterilisationen oder Kastrationen unter Zwang erlebt haben.»

Als dritte neue Ebene bezeichnet Loretta Seglias das Medium. Damit werden diese Informationen leicht für viele zugänglich. «Das Internet ist heute eine wichtige Informationsquelle. Deshalb ist es wichtig, dass umfangreiche Informationen zum Thema digital zu finden sind.»

Möglichst breit erzählen
Auf der Website werden die digitalen Möglichkeiten ausgenützt, mit Texten, Bildern und Videos. Die Geschichten gehen nah und berühren, da sie direkt von den betroffenen Menschen erzählt werden und so Persönlichkeiten damit verknüpft werden können. Mit der Onlineplattform möchten die Initiantinnen und Initianten über ein wichtiges Stück Schweizer Sozialgeschichte informieren und für das Thema sensibilisieren, sagt Loretta Seglias. Deshalb hätten sie auch mit der Pädagogischen Hochschule Luzern zusammen öffentlich zugängliches Unterrichtsmaterial für Schulen erarbeitet.

Im Landesmuseum, wo das Thema bereits in der Dauerausstellung präsent ist, konnte der Verein «Gesichter der Erinnerung» eine Medienstation konzipieren und umsetzen. Sie soll dazu beitragen, dass breiter über das Thema gesprochen wird. «Dazu gehört auch anzuerkennen, dass viele Betroffene nicht oder nicht mehr über das Erlebte sprechen können, und dass alle, die den Mut haben ihre Erfahrungen zu teilen, einen wichtigen Beitrag leisten», betont die Historikerin.

Was Kirchen weiter tun müssten
Die Rolle der Kirchen in diesem dunklen Kapitel der Schweizer Gesellschaft ist nicht rühmlich. Evangelische Akteurinnen und Akteure seien Teil der Praxis gewesen und hätten mitgeholfen, fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen umzusetzen, sagt Loretta Seglias. «Moralische Instanzen, wie ein Pfarrer, hatten in einem Dorf und bei sozialen Fragen grosses Gewicht. Sie konnten entscheidend dazu beitragen, ob eine Familie zusammenblieb oder nicht.»

Zudem betrieben evangelische Organisationen Kinderheime, vermittelten Pflegeplätze und übernahmen Aufsichtsaufgaben. Doch da sei weiter Forschung notwendig: «Wir wissen noch vergleichsweise wenig über diese Zusammenhänge im evangelischen Umfeld. Hier wären gezielte Studien wichtig, die gerade auch den konfessionellen Aspekt untersuchen, der lange wichtig war», hält Seglias fest. Auch die aktive Auseinandersetzung sieht sie als wichtigen Ansatz: zuhören, Betroffene einbeziehen und nach ihren Bedürfnissen gegenüber der reformierten Kirche fragen.

Marius Schären, reformiert.info

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