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«Viele hetzen durch ihr Leben und verschlafen es»

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19.12.2022
Anselm Grün ist der prominenteste Mönch Deutschlands. Der Pater über die Krise als Chance und das Geheimnis des Glaubens.

Pater Anselm Grün, Krieg in der Ukraine, Energielücke und Corona. Die negativen Meldungen nehmen nicht ab.
Man kann sich darüber ärgern oder dies als Herausforderung annehmen. Wir erhalten jetzt Impulse, um über das Leben nachzudenken und uns zu fragen, wo können wir sparen. Dieses Sparen bedeutet nicht Lebensverneinung, sondern bietet uns die Chance, mit gutem Gewissen zu leben. Das Entscheidende ist, dass wir uns nicht als Opfer fühlen. Das nimmt uns die Kraft. Wir können kreativ darauf antworten, indem wir neue Ideen entwickeln, wie wir mit weniger Energie umgehen. Die Krise ist Anlass, umzudenken und sich neue Fragen zu stellen, statt beim Alten zu verharren.

«Fürchtet euch nicht!», verkünden die Engel den Hirten auf dem Felde in der Weihnachtsgeschichte. Fehlen heute solche Engel?
In der Tat, es gibt heute viele Unheilsengel und wenige Engel, die Hoffnung vermitteln.

Wäre das Aufgabe der Kirche?
Ja, die Kirchen sollen die Probleme aber nicht mit frommen Phrasen zudecken. Die Kirche hat die Aufgabe, die Welt zu sehen, wie sie ist, und trotzdem zu hoffen, dass sie sich wandeln kann.

Für viele, die Ihre Bücher lesen, verbreiten Sie Hoffnung. Wo nimmt Pater Anselm Grün seine Hoffnung her?
Ich glaube einfach, dass Gott uns nicht alleine lässt. Sein Geist ist unter uns, auch wenn wir ihn oft nicht spüren. Er ist da.

Warum fällt es heute vielen Menschen so schwer zu glauben?
Weil ihnen die Worte der Kirche fremd geworden sind und sie meinen, sie müssten alle «Wahrheiten» der Kirche glauben. Sie verbinden Glauben mit altmodischen Vorschriften. Es geht nicht um die Worte, sondern Glauben heisst, sich für das Geheimnis zu öffnen, das uns übersteigt.

Was braucht es, um glauben zu können, Sehnsucht, Mut oder Vertrauen?
Glauben heisst, sich getragen fühlen, einen Sinn in seinem Leben zu spüren und in etwas Grösseres eingebunden zu sein. Das weckt eine Sehnsucht, die auch eine Sehnsucht nach Freiheit ist. Wenn ich mich von Gott getragen fühle, bin ich frei und muss mich nicht ständig beweisen und ins Zentrum rücken.

Sie sagen, alle Menschen kennen diese Sehnsucht. Sollte man stärker auf diese Sehnsucht hören?
Ja. Die Psychologie besagt, Sucht sei verdrängte Sehnsucht. Es gibt heute viele Menschen, die süchtig sind.

Gehört der Glaube zur menschlichen Existenz?
Wir glauben ja permanent an irgendetwas. Mit dem Glauben verbindet sich die Frage, wie ich mein Leben deute. Ich kann mein Leben etwa mit den Massstäben der sozialen Medien deuten, mit der Ökonomie oder sonst was. Oder eben mit dem Geheimnis des Grösseren.

Eines Ihrer Bücher trägt den Titel «Versäume nicht dein Leben». Was können wir tun, um unser Leben nicht zu versäumen?
Viele versäumen ihr Leben, weil sie zu hohe Erwartungen und Idealbilder haben, denen sie immerzu hinterherlaufen. Sein Leben nicht zu versäumen heisst, jetzt im Augenblick zu leben und Sinn in seinem Leben zu finden. Dazu müssen wir uns auch von diesem Perfektionismus befreien.

Sie sagen «im Augenblick leben»: Viele von uns leben mehr in den sozialen Medien oder am Handy.
Sieht man all die Menschen, die ständig auf ihr Mobiltelefon starren, habe ich den Eindruck, dass wir Gefahr laufen, uns zu verlieren. Wir sind überall und doch nirgends und sind im Netz gefangen. Viele hetzen durch ihr Leben und verschlafen es.

Pater Anselm, was haben Sie in Ihrem Leben versäumt?
Ich bin eigentlich dankbar, dass es so gelaufen ist.

 

«Glück ist heute ein Modewort. Für mich bedeutet Glück, in Einklang kommen mit sich selber.»
Pater Anselm Grün

 

Dankbarkeit und Glück: Viele Ihrer Bücher handeln davon, wie man glücklich wird.
Glück ist heute ein Modewort. Für mich bedeutet Glück, in Einklang kommen mit sich selber. Glück ist nicht nur etwas Äusseres, sondern es geht in erster Linie um die Frage, wie ich mit mir in Einklang kommen kann. Und dies geschieht auf einem spirituellen Weg.

Und wie gelingt dies?
Indem ich Ja sage zu mir und akzeptiere, dass ich nicht so ideal bin, wie ich sein möchte. Dass ich Ja sage zu diesem durchschnittlichen Menschen und zu meinen Leben. Und dass ich sehe, dass dieser durchschnittliche Mensch auch eine Aufgabe im Hinblick auf andere Menschen hat. Glück kann die Erfahrung sein, wenn etwas gelingt, etwa ein Gespräch oder eine Begegnung, oder wenn wir intensive Erfahrungen machen und staunen. Gerade Staunen hält das Glück lebendig.

Ist die Weihnachtsbotschaft Teil dieses Weges zum Glück?
Auf jeden Fall. Weihnachten sagt, Gott ist in Jesus herabgestiegen in unsere Welt. Alles, was ist, ist von diesem Herabsteigen berührt. Wolfgang Amadeus Mozart hat dieses «descendit » (herabsteigen) in seiner Vertonung des Credos aufgegriffen. Seine Musik klingt traurig, als wisse sie um die Abgründe der Menschen, und trotzdem klingt sie fröhlich, denn alle Hoffnungslosigkeit und alles Dunkle verwandelt sich, und das Chaos kommt in Form, wenn Gott in Jesus zu uns und in unsere Seelen hinuntersteigt. Wir werden verwandelt.

Interview: Tilmann Zuber

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