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«Da sein, präsent sein, im Moment gewahr sein»

von Matthias Zehnder,  tsc
min
28.02.2023
Pro Jahr behandeln im Universitätsspital Basel rund 8000 Mitarbeitende etwa 40 000 Patientinnen und Patienten. Um diese Menschen kümmern sich aber nur gerade sechs Seelsorgende.

wann eine bestimmte Untersuchung, ein Medikament oder eine Behandlung angezeigt ist. Eine medizinische Indikation begründet also, wann eine medizinische Behandlung angemessen oder notwendig ist. Indikationen sind wissenschaftlich fundiert und klar definiert.

Ein ähnliches Verfahren wendet seit Anfang Jahr die Spitalseelsorge im Universitätsspital Basel (USB) an: «Wir arbeiten neu nach einem Set von Indikationen», erklärt Pfarrer Matthias Wetter. Der 36-Jährige arbeitet in einem 50-Prozent-Pensum als reformierter Spitalseelsorger am USB und ist für gut 120 Betten zuständig. Das Indikationenset begründet, wann ein Besuch der Seelsorger angemessen oder notwendig ist. Anders als in der Medizin beinhaltet das Set keine körperlichen Symptome. Es umfasst vier Ebenen: Sinn, Transzendenz, Identität und Werte.

Sinn und Transzendenz
Auf der Sinnebene gehe es um Sinnund Schicksalsfragen, um Trauer und Verzweiflung. «Wenn man länger im Spital ist, fällt einem irgendwann die Decke auf den Kopf: Man beginnt zu hadern, fühlt sich ohnmächtig und fragt nach dem Sinn der Krankheit», erzählt Wetter. «Wenn jemand lange im Spital liegt, kommt es unweigerlich zu Enttäuschungen, zum Beispiel weil Therapien nicht funktionieren wie erwünscht. Das kann sehr belastend sein, nicht nur für die Patientinnen und Patienten, sondern auch für Angehörige. »

Auf der Transzendenzebene gehe es um Ungewissheit und Glaube, um Rückzug und Einsamkeit. «Viele Menschen sehen sich im Spital mit Ängsten und Hoffnungslosigkeit auch in Bezug auf den Glauben konfrontiert», sagt Wetter. «Das kann verbunden sein mit Wut und Verbitterung. Da stellen sich religiöse Bedürfnisse im Glauben nach einer Sprache, die man kennt.» Das könne ein vertrautes Ritual sein, etwa das Anzünden einer Kerze, ein Gebet, ein Gottesdienstbesuch oder ein seelsorgerliches Gespräch.

Identität und Werte
Auf der Identitätsebene gehe es um Scham- und Schuldgefühle, um Identitätskonflikt und Kontrollverlust. Das könne sich aus der Biografie ergeben, etwa aufgrund von traumatischen Erfahrungen oder Einschnitten im Leben. «Dann kreisen die Gedanken um Unerklärtes und Unerreichtes, die als Ursache für die jetzige Situation interpretiert werden», sagt Wetter. Ein solcher Kontrollverlust im Spital könne auch zu Schuldgefühlen führen.

Auf der Werteebene gehe es im Spital um ethische Konflikte, die sich etwa ergeben, wenn bei Patienten oder Angehörigen Fragen zu Versorgung und Behandlung auftauchen. «Das können Fragen von Patientinnen und Patienten sein, aber auch von Angehörigen, die vor Entscheidungen stehen, etwa dem Abschalten von lebenserhaltenden Massnahmen auf der Intensivstation », erklärt Matthias Wetter. «Das sind schwierige Entscheide, weil moralische Vorstellungen in Konflikt geraten.»

Zwängt die Orientierung nach Indikationen die Spitalseelsorge in ein Korsett? «Im Gegenteil», findet Matthias Wetter. «Es hilft uns, unser Hinhören für die Anliegen der Menschen zu schärfen und im ökumenischen Seelsorgeteam eine gemeinsame Sprache zu finden. Auch ist es ein Hilfsmittel, unsere Arbeit innerhalb des Spitals wie auch ausserhalb zu erklären.» Das Indikationenset helfe zudem den Gesundheitsfachpersonen, zu unterscheiden, wann sie eine Seelsorgerin und wann sie eher einen Psychiater rufen müssen.

Der grösste Unterschied zum medizinischen Personal sei, dass die Seelsorgerinnen in ihrem Tun eine Heilung oder Verbesserung des Gesundheitszustands nicht als primären Zweck ansehen. «Da sein, präsent sein, im Moment gewahr sein. Das ist das wunderbarste Geschenk, das wir machen können», betont Wetter. «Uns geht es darum, Spiritualität im Spitalalltag als Ressource zu begreifen.» Es sei wichtig, dass die Seelsorger unabhängig von allen medizinischen Aspekten, die «selbstverständlich dazugehören und wichtig sind, Zeit haben und Raum schaffen für das, was in dem Moment wichtig ist». Er selbst sei zwar Teil des Universitätsspitals: «Ich bin entsprechend gekleidet, ich habe Zugang und einen Badge. Aber ich muss zum Glück nicht mit einer Krankenkasse abrechnen.»

 

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