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«Ich will zum Wesentlichen im Leben ermutigen»

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19.04.2016
In seinem Buch «Bluff! Die Fälschung der Welt» spricht Theologe und Chefarzt Manfred Lütz von Scheinwelten, die uns gefangen halten. Ein Gespräch über existenzielles Leben, die Kirche und persönlichem Glauben.

Herr Lütz, in Ihrem Buch «Bluff! Die Fälschung der Welt» stellen Sie die These auf, dass wir in künstlichen Welten leben und uns etwas vorgaukeln lassen. Dabei hat der moderne Mensch das Gefühl, aufgeklärt und objektiv zu sein. Ist auch unser wissenschaftliches Weltbild ein Bluff?
Vorweg muss ich sagen, dass diese künstlichen Welten nicht per se schlechte Welten sind. Ob Finanzwelt, Gesundheitswelt oder wissenschaftliche Welt – das sind nützliche Welten, die man gar nicht kritisieren muss. Das Problem tritt erst dann ein, wenn wir eine oder mehrere dieser Welten für die eigentliche, existenzielle Welt halten. Dann wird das Ganze zum grossen Bluff. Und dann liegt man auf dem Sterbebett und überlegt sich, wie man das Leben verbracht hat – in der Wissenschaft, auf der Bühne, in der Bank oder wo auch immer – und fragt sich: Wann habe ich denn existenziell gelebt?

Was heisst denn «existenziell leben»?
Existenziell leben sind Erfahrungen von Liebe, von Gut und Böse, vom Sinn des Lebens und von Gott. Das alles kommt in unseren künstlichen Welten nicht vor, denn es sind Dinge, die nicht messbar sind. Auch der Physiknobelpreisträger liebt seine Frau. Auch wenn er dies nicht physikalisch oder sonst wie messen kann, ist dies für ihn existentiell wichtig. Liebe und auch Gott kann man nicht wissen, man ist ihrer gewiss, und das ist viel mehr als wissen. Wer glaubt, die Welt sei nur das, was man messen könne, hat ein ziemlich eingeschränktes Wirklichkeitsverständnis.

Wie sieht es mit der Wirtschaftswelt aus? Alles gar nicht wahrhaftig?
Ich glaube, die Wirtschaft hat eine hohe Suggestivkraft, so dass viele so leben, als sei das die eigentliche Welt. Ich habe einen Patienten behandelt, dessen psychische Stimmung vom Stand des deutschen Aktienindexes «Dax» abhing. Das heisst, die Familie wusste, wenn der Dax innerhalb des Tages wieder mal abstürzt, ist der Vater am Abend unbrauchbar. So etwas ist für alle furchtbar. Das Eigentliche im Leben ist doch das Verhältnis, das ein Mensch zu seinen Kindern und zu seiner Frau hat und nicht zu irgendeiner Zahl. Aber wer sich nur noch mit dieser Wirtschaftswelt befasst, dem erscheint sie irgendwann als die eigentliche Welt. Alles andere, ja selbst die persönlichsten Beziehungen, erscheinen demgegenüber weniger wirklich. Wenn das passiert, dann wird es gefährlich.

Ist die wirkliche Existenz nicht langweiliger als ein Leben in Scheinwelten?
Nein, im Gegenteil. Es ist eher so, dass das Leben in Scheinwelten auf Dauer langweilig wird. Die wirklichen Profis in den verschiedenen Bereichen wissen genau, dass das nicht das wirkliche Leben ist. Zum Beispiel sind es in der Medienwelt gerade die Grossen, die sehr gut wissen, dass das Scheinwelten sind, in denen sie eine so bedeutende Rolle spielen. Deswegen steigen sie irgendwann aus. In der Schweiz war es Emil Steinberger, der plötzlich von einem auf den anderen Tag nicht mehr «Emil» sein wollte, obwohl er diese Rolle glänzend gespielt hatte. Ich war ein Fan von Emil. In Deutschland sind es in jüngster Zeit unter anderem Hape Kerkeling, Stefan Raab die für sich entschieden haben, sie möchten nicht auf dem Sterbebett feststellen, dass sie auf der Bühne nur künstlich gelebt haben. Übrigens sind es auch in der Wirtschaftswelt oft die ganz Grossen, die sich der Begrenztheit des wirtschaftlichen Erfolgs bewusst sind.

Kann man denn den Scheinwelten entfliehen?
Ich habe in dem Buch «Bluff! Die Fälschung der Welt» einige Wege aufgezeigt, das sind natürlich ganz persönliche Wege. Jedenfalls sollte man aufmerksamer werden auf all die existentiellen Erlebnisse, die wir Tag für Tag haben und die uns entgehen, wenn wir sie nicht wertschätzen. Es kann die unerwartete Begegnung mit einem berührenden unbekannten Menschen in der Bahn sein, natürlich auch ein Gebet oder das Erlebnis von Musik, das uns existentiell berührt. Übrigens habe ich inzwischen auch ein Folgebuch geschrieben: «Wie Sie unvermeidlich glücklich werden». Das richtet sich ironisch gegen all diese schrecklichen Ratgeber, die ja eine Anleitung zum Unglücklichsein sind. Es weist darauf hin, dass man nur dann wirklich glücklich ist, wenn man in der Gewissheit lebt, dass man selbst in den Krisensituationen seines Lebens, in Leid, Schuld, Kampf und Tod nicht ins Nichts fällt. Das Christentum kann da wichtige Antworten geben.

Säkularisten werden wohl behaupten, dass die Kirchenwelt die grösste Scheinwelt sei.
Im Gegenteil: Die Kirche erinnert ja gerade daran, dass es über die scheinbaren Plausibilitäten all dieser künstlichen Welten hinaus eine eigentliche Welt gibt. Auch sie ist manchmal in diese Scheinwelten verstrickt, das verdunkelt ihr Zeugnis. Aber die Kirche schenkt der Gesellschaft mit dem Gottesdienst eine Zeit, in der man aus allen Kunstwelten aussteigen kann. Der Gottesdienst gibt Gelegenheit, wenigstens eine von 168 Wochenstunden völlig zwecklos, aber höchst sinnvoll man selbst zu sein – man selbst vor Gott zu sein. Auch für Atheisten könnte es nützlich sein, sich so eine Zeit zu nehmen, in der man nicht in irgendeiner Rolle als Vorgesetzter oder Untergebener, Vater oder Sohn steckt, sondern in der man sozusagen selbst lebt.

Zählen Sie Gott und den christlichen Glauben als das einzig Wahre?
Ich bin katholischer Christ und glaube, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist. Ich glaube das nicht nur deswegen, weil meine Eltern das geglaubt haben oder weil das sozusagen zu meiner Wohnungstapezierung gehört. Ich glaube, dass das die Wahrheit ist. Ich habe gute Freunde, die glauben etwas anderes, dennoch sind es meine Freunde. Es gibt Leute, die sagen, sie seien Atheisten, die leben oft christlicher als ich. Ich vermute, dass die wegen ihres uneigennützigen Lebens wahrscheinlich in den Himmel kommen. Bei mir bin ich da nicht so sicher.

Wie pflegen Sie Ihren persönlichen Glauben?
Ich gehe an Sonn- und Feiertagen in die Kirche und versuche, regelmässig zu beten und im Übrigen ein einigermassen anständiger Mensch zu sein.

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

Interview: Basil Höneisen / Kirchenbote / 19. April 2016

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