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Eingreifen, wenn die Würde von Menschen verletzt wird

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11.05.2016
Die reformierte Kirche Kilchberg ZH gewährt einer von der Ausschaffung bedrohten tschetschenischen Familie Asyl. Diese lebt im Pfarrhaus von Pfarrerin Sibylle Forrer. Die Pfarrerin und Markus Vogel, Vizepräsident der Kirchgemeinde, erläutern die Gründe, weshalb sich die Kirche engagiert.

Wie gehts es der tschetschenischen Familie momentan?
Sibylle Forrer: Sehr schlecht. Es lastet ein wahnsinniger Druck auf ihr. Die beiden Ausschaffungsversuche haben tiefe Spuren hinterlassen, bei den Eltern wie den Kindern.

Was macht ihr am meisten zu schaffen?
Forrer: Alle sechs - Vater, Mutter, die zwei Mädchen und die zwei Söhne - haben wahnsinnige Angst, wieder ausgeschafft zu werden. Noch grösser ist ihre Angst davor, was sie in Tschetschenien erwartet. Der Vater ist überzeugt, dass er dort wieder inhaftiert werden wird. Ob er dort dann jemals wieder rauskommen wird, ist zu bezweifeln, wenn man den Berichten von Amnesty International über die Realität in Tschetschenien Glauben schenkt. Ohne Vater ist die Familie schutzlos; was das für die Töchter bedeutet in einem Land, wo die Zwangsverheiratung von Mädchen an der Tagesordnung steht, kann man sich ausmalen.

Hat sich der Vater politisch betätigt?
Markus Vogel: Der Vorwurf, den man ihm macht, geht auf den 1.Tschetschenienkrieg zurück. Er gab einem Nachbarn zu essen. Dieser Nachbar gehörte zu den Rebellen. Wer in diesem Land mit Rebellen in Kontakt gerät oder gebracht wird, ist sofort im Fokus der staatlichen Macht. Ein Onkel des Vaters gehörte den Widerstandskämpfern an - diese zwei Faktoren reichen, um verhaftet zu werden.
Forrer: Der Vater wurde in Tschetschenien auch gefoltert. Darum gab das Komitee «Hier zuhause», das die Familie unterstützt, zusammen mit den Anwälten der Familie eine Beschwerde beim CAT (Committee Against Torture) der UNO ein.

Wie sieht der Alltag der Familie aus?
Forrer: Sie schlafen und essen im Pfarrhaus, kochen selber - leben einfach möglichst normal. Ich spreche täglich mehrmals mit ihnen. Der Familie tut es gut, zu reden und zu merken, dass jemand für sie da ist. Der zweite Ausschaffungsversuch nach demjenigen vom September 2015 war am 19. April 2016. Das Kirchenasyl wurde ab dem 8. Mai gewährt.

Warum erst so spät?
Vogel: Die Familie war drei Wochen in den Ferien, um auch räumlich Abstand vom Geschehenen zu bekommen. Während dieser Ferien fand der zweite Ausschaffungsversuch statt. Darum war die Familie nicht anwesend, als Polizisten nachts um 3.30 Uhr gewaltsam in die Wohnung eindrangen.
Forrer: Nun ist die Familie wieder zurück, da die Mädchen und der ältere Sohn in die Schule müssen. Weil die Bedrohungssituation für die Familie nach wie vor akut ist, hat die Kirche darauf reagiert und ihr Asyl gewährt.

Wieso gewährt die Kirche Asyl? Sind es die dramatischen Umstände bei der tschetschenischen Familie oder ist es ein humanitärer Akt?
Vogel: In erster Linie aus humanitären Überlegungen. Menschen sind in Not, fürchten um ihr Leben; nicht irgendwelche Leute, sondern solche, die in unsere Gemeinde gehören, sich bestens integriert haben. Für uns ist der Aspekt der Solidarität, der Nächstenliebe, einfach des Helfen wichtig.
Forrer: Aus theologischer Sicht kann man auf die Geschichte des barmherzigen Samariters verweisen. Wir sehen das Leid und gehen nicht vorbei. Auf diese Not der Familie reagieren wir. Es geht uns nicht darum, den Rechtsstaat auszuhebeln oder in Frage zu stellen. Doch haben wir als Kirche ein prophetisches Wächteramt. Wo die Würde von Menschen verletzt wird, muss die Kirche ihre Stimme erheben. Per Kirchenordnung sind wir dazu verpflichtet. Es wurde von der zuständigen Behörde beispielsweise festgehalten, dass vorgängig zur Ausschaffung der Familie eine medizinische und psychologische Betreuung stattfinden muss. Diese hat nicht stattgefunden. Beim ersten Ausschaffungsversuch war das Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht noch hängig. Dieses Vorgehen der Behörden sehen wir sehr kritisch. Vor allem aber sehen wir eine Familie, die unter dem Druck der Angst, in einem Land leben zu müssen, wo sie an Leib und Leben bedroht sind, zu zerbrechen droht. Und das Erkennen dieser konkreten Not hat uns zum Handeln bewogen.

Was erhoffen Sie sich von der Gewährung des Kirchenasyls?
Forrer: Wir von der Kirche sind der Ansicht, dass die Beurteilung über die Lage in Tschetschenien durch die Behörden zu positiv ausgefallen ist. Wir stützen uns dabei auf einen kürzlich erschienenen Bericht von Amnesty International. Wir hoffen, die Behörden werden den Fall neu beurteilen – kritische Anfragen zur Ausschaffungsaktion haben auch drei Politiker diese Woche im Kantonsrat erneut gestellt. Man kann eine Situation immer zugunsten oder zulasten von Menschen beurteilen. Es ist meiner Ansicht nach Aufgabe der Kirche, sich dafür stark zu machen, dass eine Interpretation zugunsten von Menschen, ihrer Sicherheit, Gesundheit und ihrem Wohlergehen vorgenommen wird. Auch hoffen wir, dass die Eingabe ans CAT an die UNO abgewartet wird, bevor weiteres unternommen wird. Doch geht es für uns nicht um ein Kräftemessen mit dem Rechtsstaat; wir werden keinen physischen Widerstand leisten, wenn ein weiterer Ausschaffungsversuch unternommen wird.

Sie sprachen von einem «symbolischen Akt». Wie ist das zu verstehen?
Vogel: Es ist ein Solidaritätsakt von seiten der Kirche, die als Teil der ganzen Bewegung für die Familie wirkt. Dies kann einen Symbolcharakter haben. Wir hoffen, dass es eine gewisse Ausstrahlung hat auf politische Entscheidungsträger.

Wie erklären Sie sich die breite Unterstützung in einer reichen Zürichseegemeinde für die tschetschenische Familie?
Forrer: Kilchberg ist nicht nur reich, sondern eine freisinnig-bürgerlich gesinnte Gemeinde. Ich glaube, die ganze Solidaritätsaktion hängt damit zusammen, dass kaum jemand versteht, wie man eine derart gut integrierte Familie in eine völlig unsichere Situation in ihrem Herkunftsland zurückschicken kann.

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

Interview: Stefan Schneiter / reformiert.info / 10. Mai 2016

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