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«Wir gehören dazu»

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01.01.2016
Flüchtlingstag 2012: Lina und Lubna Al-Bayati sind Vorzeigeflüchtlinge. In kürzester Zeit haben die beiden Irakerinnen Deutsch gelernt, die Matura nach­geholt und studieren heute an der ETH Pharmazie. Im Heks-«Blickwechsel» stellten sie dem Filmchef des Bundes Ivo Kummer ihre Welt vor.

Eigentlich haben die drei wenig miteinander zu tun, Ivo Kummer und Lina und Lubna Al-Bayati. Doch beim Heks-«Blickwechsel» verbrachten sie einen ganzen Tag in Solothurn und entdeckten Gemeinsamkeiten. In der Aarestadt wuchs Ivo Kummer auf. Hier leitete er jahrelang die Solothurner Film­tage. Seit zwei Jahren ist er im Bundesamt für Kultur für die Filmförderung zuständig. Lina und Lubna Al-Bayati holten an der Kantonsschule in Solothurn ihre Matura nach. «Einen Steinwurf von diesem Schulhaus entfernt verbrachte ich meine Kindheit», erzählt der Filmchef des Bundes.

Den Namenlosen eine Stimme geben
Mit dem Projekt «Blickwechsel» bringt das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz Heks sozial Benachteiligte und Prominente aus Politik, Kultur oder Sport zusammen. In der Vergangenheit waren dies etwa der Schriftsteller Pedro Lenz, die Schauspieler Caroline Gasser, FCZ-Präsident Ancillo Canepa oder der Basler Journalist -minu.
Beide Seiten erhalten so einen Einblick in den Alltag, die Freuden und Schwierigkeiten des anderen. Heks will mit dieser Aktion jenen eine Stimme verleihen, die üblicherweise nur als anonyme Nummern in den Migrations- und Sozialämtern auftauchen.
In Solothurn folgte Ivo Kummer den Stationen aus Lina und Lubnas Leben. Mit den Schwestern besuchte er die Rechtsberatungsstelle von Heks. Wie viele Asylbewerber suchte die achtköpfige Familie Al-Bayati hier Unterstützung. Als die Situation nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein zu unsicher wurde, war die achtköpfige Familie nach Syrien und später dann in den Libanon geflüchtet.
Von dort aus reiste sie 2008 in die Schweiz. Lina erinnert sich gut an die Wirren und wie man versuchte, ihren Bruder zu entführen. «Unser Leben war damals nicht mehr sicher», beteuern die Schwestern. In dieser Zeit studierte die älteste Tochter Medizin und hatte eine steile Karriere vor sich.
Von einem Tag auf den anderen war damit Schluss: Mit ihrer Flucht in die Schweiz mussten sie alles zurücklassen: Verwandte, Freunde, Studium und Besitz. Die Familie strandete im Durchgangszentrum Kreuzlingen. «Es war kalt, als wir im Februar in der Schweiz ankamen», erinnert sich Lubna.
Nach Kreuzlingen kamen sie in den Kanton Solothurn. Al-Bayatis stellten Antrag auf Asyl und erhielten einen negativen Entscheid. Ein Rekurs folgte auf den anderen. Heute lebt die Familie mit einer Aufenthaltsbewilligung F. Jederzeit kann dieser Status aufgehoben und sie ausgeschafft werden. Anfänglich machte diese Unsicherheit Lina und Lubna schwer zu schaffen. Inzwischen nehmen sie die Situation gelassener. «Das Wichtigste ist, dass die Familie zusammen ist», erklärt Lubna.
Die Familie hat bei den Schwestern einen grossen Stellenwert. Sie hält zusammen. Gemeinsam lernten sie Deutsch «wir machten Spiele auf Deutsch», erzählen die beiden. Mit Erfolg: Die jüngste Schwester fiel ihrem Lehrer wegen ihrer hervorragenden schulischen Leistungen auf. Er setzte sich dafür ein, dass die beiden Älteren an der Kantonsschule Solothurn in zwei Jahren die Matura nachholen konnten. Noch nie habe jemand an ihrer Schule so schnell Deutsch gelernt, erzählt ihre Deutschlehrerin an der nächsten Station des «Blickwechsels».
Seit 2011 studieren Lina und Lubna Pharmazie an der ETH. Für die Fahrt nach Zürich brauchten die beiden zweieinhalb Stunden. Um halb sechs Uhr in der Frühe stiegen sie in den Bus. Als vorläufig aufgenommene Flüchtlinge müssen sie im Kanton Solothurn wohnhaft bleiben. Inzwischen haben die beiden Arbeit gefunden und benötigen keine Sozialhilfe mehr. Die Mutter arbeitet heute in der Gastronomie. Der 62-jährige Vater, der in seiner Heimat als Anwalt tätig war, findet in seinem Alter keine Stelle. Auf dem Schweizer Arbeitsmarkt hat er keine Chance.
Die Nachbarn und Betreuer hatten die Familie gut aufgenommen. Trotzdem ist den Al-Bayatis bewusst, wie wichtig die Integration ist. Die Kinder traten dem Turnverein bei, nahmen an Turnfesten teil oder halfen den Bauern bei der Kartoffelernte auf dem Felde. Sie wollten zeigen, «wir gehören dazu».

Tilmann Zuber

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