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Auf der Suche nach dem vergessenen Schatz

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01.01.2016
Viele der kirchlichen Feiertage seien nicht mehr zeitgemäss, meinen einzelne Politiker und Atheisten. Das ist völlig falsch. Denn im kirchlichen Festkalender schlummert ein enormer Schatz. Ihn zu bergen, wäre die Aufgabe der Kirchen.

Was geschah an Ostern? «Weiss nicht!», «Äh», «Etwas mit der Kirche?» Wenn die Medien die Bürger nach den kirchlichen Feiertagen befragen, dann fallen die Antworten meist ernüchternd aus. Der kirchliche Analphabetismus scheint gravierend, warnen die Pädagogen und verweisen darauf, dass heute nur noch 39 Prozent der Sechs- bis Zwölfjährigen in Deutschland wissen, warum Weihnachten gefeiert wird. In der Schweiz dürfte dies Ergebnis nur leicht besser ausfallen.
Nicht nur von der Bildung her stehen die Feiertage unter Druck, auch von der Wirtschaft und Freizeitindustrie. Regelmässig reichen Kantonsräte Vorstösse ein, um die Ruhezeiten aufzuheben. 2010 setzte die «Schweizer Super League» erstmals ihre Fussballspiele an einem Auffahrtstag an. Lediglich die Kirche mahnte, man solle mit den Feiertagen sorgsam umgehen.
Während Atheisten und Liberalisierer ihren Kreuzzug gegen die kirchlichen Ruhezeiten fortsetzen, weiss die Psychologie längst um die Bedeutung der Feiertage und ihrer Rituale. Feste strukturieren die Zeit und ermöglichen der Gesellschaft die Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit und dem Sinn des Lebens. Was wäre das Jahr ohne die Magie der Weihnachtsgeschichten? Was der Frühling ohne die hoffnungsvolle Osterbotschaft?

Befreiung zum Leben
Die heilende Kraft des Kirchenjahrs hat Christoph Witzig entdeckt. Witzig veranstaltet Seminare unter dem provokativen Titel «Das verschlafene Kirchenjahr».
Der Berater und Sprachgestalter wuchs im klerikalen Milieu auf und arbeitete als Journalist im kirchlichen Bereich. Beides hat ihn für die Wirkung des Glaubens auf die Identitätsentwicklung sensibilisiert: Behindert werde sie von zwei Seiten her, erklärt er «Du sollst und musst» laute das enge Korsett, mit dem evangelikaler Glaube die eigene Identität ersticke. Auf der anderen Seite stehe eine zu abstrakte Theologie, für Witzig «ein Kochbuch, das nicht satt macht».
In der Bibel begegnete Christoph Witzig später ein anderer Christus: «Es war weder der wachsame Polizist noch ein abstrakter Wert, sondern der Befreier zum Leben.» Heute begleitet Christoph Witzig als Geschäftsführer der Beratungsstelle «trans-forum.ch» Menschen auf ihrem Weg aus bevormundender Religiosität heraus.
1997 lebte er während dreier Monate in einer benediktinischen Kommunität. Er erlebte dort, wie das Kirchenjahr und die Rituale die Tage prägten und die Menschen anregten, auch ihn selbst. Das Kirchenjahr wurde für Christoph Witzig zur Entdeckung des lebendigen Jesus. Jedes Fest Weihnachten, Karfreitag, Ostern, Pfingsten, Auffahrt steht für eine Lebensstation des Nazareners. Witzig folgte diesem Lauf und las die entsprechenden biblischen Stellen.
Die Festtage wurden für ihn zu Pilgerstationen zu Gott und zu sich selbst, erzählt der Bieler, bieten sie doch eine Fülle an Identifikationsmöglichkeiten und einen Schatz an vielfältigen menschlichen Grunderfahrungen wie Erwartung und Erfüllung, Widerstand und Annahme, Ohnmacht und Autorität oder Freiheit und Verbundenheit.
So werde das Kirchenjahr zur Inspirationsquelle für die eigene Entwicklung. Wer sich so auf das Leben Jesu einlasse, könne «Gott bis zu sich selbst entgegen gehen», erklärt Christoph Witzig mit einem Zitat von Bernhard von Clairvaux.
Für den Journalisten ist klar, dass das Kirchenjahr bei den Reformierten im Dornröschenschlaf liegt. Die Kirchen müssten es wecken. Doch Christoph Witzig warnt davor, die Einhaltung der Feiertage aus Prinzip zu fordern. Genau dann würde der Schatz dahinter verschlafen. Die Geschichte der Sabbatheiligung zeige scharf, was oberste Priorität habe: Leben zu ermöglichen. Sobald es nur noch ums Prinzip gehe, kippe die an sich wunderbare Gelegenheit in etwas Lebensfeindliches.

Wie Schneewittchen im gläsernen Sarg
Für den Psychologen und Theologen Arnold Bittlinger feiern die grossen christlichen Feste das Werden und Vergehen und den Wunsch nach Wachstum, Reifung und Vollendung. Der Jungianer vergleicht die Symbolik von Karfreitag, Ostern und Pfingsten mit jener in Märchen und Mythen. Er kommt zu einem erstaunlichen Ergebnis: Der Farbsymbolik Schwarz (Karfreitag), Ostern (Weiss) und Rot (Pfingsten) begegnet man etwa im Märchen von Schneewittchen. Die Königin wünscht sich ein Kind so rot wie das Blut, so weiss wie Schnee und so schwarz wie Ebenholz. Die Farbskala steht für den Entwicklungsprozess des Mädchens. Schneewittchen ist dem Schwarz des Todes entronnen und lebt im Zustand des ewigen Mädchens symbolisiert durch das Weiss unter Zwergen. Zuletzt liegt es in einem Glassarg. Schneewittchen ist weder tot noch lebendig. Erst der Kuss des Prinzen erlöst das Mädchen und führt es in die rote Dimension des Lebens.
Für Arnold Bittlinger gleichen viele Christen dem Schneewittchen. Sie hätten das Dunkel in ihrem Leben erkannt, seien sich ihrer Gebrochenheit bewusst und erfahren Vergebung. Doch der Schritt hin zu Pfingsten, zur Erfahrung, dass Gott handelt und der Heilige Geist sie befreit, bleibe aus. Die Christenheit schlummere im gläsernen Sarg, meint der Psychoanalytiker. « Erst der Heilige Geist befreit vom Schein zum Sein.»

Weihnachten an erster Stelle
Hat der Kirchenkalender auch in Zukunft eine Chance? Ja. Umfragen zeigen klar, dass Herr und Frau Schweizer nach wie vor auf ihn nicht verzichten wollen. Gemäss dem Meinungsinstituts GFK steht Weihnachten an erster Stelle auf der Hitliste, gefolgt vom persönlichen Geburtstag, Silvester und Ostern. Erst danach folgen der 1. August, Pfingsten und Auffahrt. Auch den Deutschen sind ihre Feiertage lieb. Die grosse Mehrheit ist dafür, dass kirchliche Festtage gesetzlich geschützt sind. 70 Prozent sprechen sich dafür aus, dass am Karfreitag die Diskotheken geschlossen bleiben. In der eher konservativen Schweiz dürfte das Ergebnis noch deutlicher ausfallen.
Da verschlafene Kirchenjahr. Kurs zur Wiederentdeckung der kirchlichen Feiertage. Christoph Witzig, Freitag, 30. November bis Sonntag, 2. Dezember, 220 Franken, Kloster Kappel Seminarhotel und Bildungshaus, www.kursekappel.ch

Tilmann Zuber

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28.09.2012: «Wer den Karfreitag zum Partytag macht, tut mir leid»

Links:
www.kursekappel.ch

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